„Und dann, auf mit dem Gashahn“

Von den Schwierigkeiten des Überlebens in der thüringischen Provinz/ Es ist nicht nur die Arbeitslosigkeit, die den Menschen zu schaffen macht/ Sind sie für dieses Leben auf die Straße gegangen, damals, im Herbst 89?  ■ Aus Erfurt Henning Pawel

Menschen, aus der Bahn geworfen. Von einem Ereignis, das sie selbst erzeugten — die friedliche, deutsche Revolution. Neu in der Geschichte, solche Art von Umsturz. Nicht aber das Schicksal der Akteure. Die sind immer dran. Danach. Die riesige Mehrheit jedenfalls. Was nicht heißen darf, sie hätte unterbleiben müssen, diese friedliche Revolution. Der Frieden für die Menschen aber steht noch aus.

Konrad F.

Wie ist der Mann bewundert worden und beneidet. Auch von mir. Der Humor. Das Aussehen. Die Eleganz. Und Frauen, im Atelier und anderswo. Ein Schneidermeister in der DDR. Wer bitte ist mehr? Kein Professor, kein Künstler. Ein Bürgermeister schon gar nicht. Ein General? Lachhaft. Die alle hatten zwar mehr Geld. Viel hat ein selbständiger Schneidermeister nicht verdient in der DDR. Die gesetzgebenden Neidhammel gönnten anderen nichts. Aber bitte, was war denn Geld? Beziehungen hieß das Zauberwort. Und wer, wenn nicht ein Schneider, hatte die. Noch dazu einer mit diesem Talent. Von Berlin einfliegen ließ sich die Kulturprominenz. Anzüge, Fummel. Angefertigt bei einem Schneider in der tiefsten, zugenagelten Provinz. Nicht teurer als 250 Mark, Ost, versteht sich.

Sogar die Freundschaft aus dem Westen kam angereist und ließ sich benähen. „Millionär würdest du bei uns“, sagt Carmen aus Wuppertal immer schwärmerisch und staunte in den Spiegel hinein, wo um Himmelswillen diese Schönheit auf einmal herkommt. Millionär!

Der Schneidermeister teilt mir sachlich mit: „Ich bin am Ende. Früher grüßten mich alle. Die ganze Stadt, besonders die Frauen. Nur, um einen Termin zu bekommen. Heute grüße ich alle, aber niemand braucht mehr einen Termin. Die Jeans kosten in Coburg im Ausverkauf 15 Mark.“ Dafür kann er sie noch nicht einmal ändern. Im letzten Monat hat er gerade die Kosten für Strom und Miete verdient. Die ist glücklicherweise noch nicht erhöht. Obwohl die Hausbesitzerin schon da war aus dem Altbundesland und alles vermessen ließ. Vor der Wende war sie auch schon manches Mal hier und schrecklich dankbar für seine Freund- und Gastlichkeit. Heute wäre er dankbar für die Erwiderung. Wenn sie sagen würde: „Zahl mir nur den doppelten Preis für das Atelier. Schließlich ist es die beste Stadtlage. Ich könnte auch das drei- oder vierfache nehmen. Aber du hast den Teil meines Hauses, den du bewohnst und in dem du arbeitest, all die Jahre auf deine Kosten erhalten.“ Aber sie sagt es nicht. Nur noch „guten Tag“. Bloß ist der nicht mehr gut, wenn sie auftaucht.

„So zerrissen und so voll Angst war ich nicht einmal hinten in der Thälmannstraße. Damals nach der Weltmeisterschaft, als mich dort die Stasi am Wickel hatte. Ich kann kein Auge mehr zubekommen. Selbst das Angeln ist mir zuwider. Aber ich kann es mir bald ohnehin nicht mehr leisten.“ Nicht nur als Schneider war der Mann nämlich berühmt, auch als Angler ein Wunder. Dreifacher Weltmeister im Fliegenangeln. Nach dem Championat das dreiste Ansinnen, Bekenntnis abzulegen für die sozialistische Gesellschaft, die ihm solches ermöglichte. In der Zeitung, im Organ 'Das freie Wort‘, sollte er sich äußern. Der Artikel war schon formuliert von den heute noch in der nun „freien Presse“ amtierenden Profis. Nur unterschreiben sollte er — und lehnte ab.

Die Folge, der unverzügliche Ausschluß aus der Nationalmannschaft und die Einberufung zur Armee. Aus der Traum von der nächsten Weltmeisterschaft, von den Sportgewässen Europas. „Mein Nachfolger, ein Westler, ist heute Millionär. Und ich?“ Er lacht sein vornehmes Lachen. „Was bin ich?“

„Mein Mann bist du“, sagt Ehefrau Carola stolz. „Außerdem, solange ich verdiene...“

Sie ist Apothekenfacharbeiterin, arbeitet verkürzt, wegen Angina pectoris. Nur sechs Stunden am Tag. Bekommt dafür 600 Mark im Monat. Die Apotheke baut schon ab. Facharbeiter gab es drüben in den Apotheken nicht. So stark besetzte auch nicht. Frauen um die 50, ohne Kinder, gehen als erste.

Er, der Schneidermeister, war schon oft unterwegs. Hat seine Dienste angeboten in westlichen Konfektionshäusern. Mildes Lächeln, Verweis auf die billigen und geschickten Ausländer. Ein Transportunternehmen hat ihm nun einen Job angeboten als Transporteur. „Ich werd es machen“, sagt er augenzwinkernd. Nun die Angst bei der Frau. „Er ist schon zweimal operiert an den Bandscheiben. Du darfst nichts tragen“, beschwört sie ihn. „Nur dich und mein Schicksal“, ulkt er, „trage ich.“ Lächelt ihr und mir zu. „Es kommen auch wieder bessere Zeiten.“ Wann bitte, tapferes Schneiderlein?

Silke und Roland R.

„Er geht kaum noch aus dem Haus“, vertraut mir die Frau an. „Nur, wenn er Schicht hat und, um mich abzuholen.“ Sie, 38, Lehrein, stellvertretende Direktorin, gekündigt, nun arbeitslos. Macht heimlich sauber. Ist ja keine Schande, oder? Er, Major NVA, 44, technischer Denst. Entlassen wie die Frau. Die Nachbarschaft mag ihn. Ein hilfsbereiter, höflicher Mensch, der nie arrogant war. Die Frau schon eher. Die hatte einen leichten Stich. Da durfte man nichts sagen, gleich kam die Belehrung. Aber er, ein feiner Kerl, dem man ohne weiteres jeden Witz erzählen konnte.

Am meisten sorgt sich Silke um ihren Mann, Diplomingenieur. 300 Mark mehr als die Kollegen im zivilen KFZ-Wesen brachte er zuletzt von der Armee nach Hause. Dafür aber jeden zweiten Sonnabend regulärer Dienst. Kaum ein Monat ohne Manöver. Wenn Urlaub, dann Kalendertage, auch Sonnabende und Sonntage. Das waren seine Privilegien und eben die 300 Mark mehr, die jeder zivile Autoschlosser an einem Wochenende verdiente, bei einem einzigen Trabant. „Aber er hat halt daran geglaubt, genau wie ich“, sagt sie einfach. „Noch heute kann mir niemand einreden, daß diese Armee, schon durch ihre bloße Existenz, nicht das Gleichgewicht wenigstens mit bewahrt hat. Und wenn die Bundeswehr legal ist, als Ergebnis des Zweiten Weltkrieges und der Teilung Deutschlands, dann war es die NVA auch. Mein Mann hat ebenso viel Ehre und Anstand im Leibe wie ein Major der Bundeswehr.“

Im zivilen Sektor will man ihn nicht. Der Chef der KFZ-GmbH hat mit ihm studiert, war auch mit ihm auf Parteischule. Ist aber seit vorletztem Herbst in einer anderen Partei. „Ich bekomme Ärger, wenn ich dich einstelle. Das mußt du einsehen.“ Er sieht es ein, der Major, und macht halt Pförtner bei der Deutschen Bank. Neulich hat einer angerufen. Der hatte einen Job für ihn. In einer Überseearmee. Als Ausbilder. „Ehe ich Totschläger ausbilde“, hat der Pförtner im Offiziersrang ins Telefon gebrüllt, „schlage ich vorher selbst ein paar tot.“

Volkmar und Luise S.

Als ob man einen Staat, der, wie auch immer, 40 Jahre funktioniert hat, abschalten kann, wie 'ne Hoflaterne. Licht aus, Klappe zu, Affe tot. Wir, die Affen, die Brüllaffen vom 89er Herbst, sind ja wirklich schon fast tot. Er ist Lokschlosser, 48, ledig. Schuppenflechte, dicke Brille. Er sieht fahrig durch das Kneipenfenster. „Stasi in die Volkswirtschaft, hab ich gebrüllt wie ein Irrer. Jetzt ist sie dort. Aber ich bin raus. Kannst du mir sagen, was ein Lokschlosser in meinem Alter, noch dazu mit solch einem Streuselkuchen auf der Haut, machen soll? Umschulen? Was denn? Versicherungskaufmann? Die warten alle auf mich. Außerdem, so viele Leute gibts doch in dem Nest gar nicht, wie hier schon jetzt Versicherungsfiguren umherfegen. Computer? Ich kann das nicht. Ich sag's dir ehrlich. Sonst wär ich heute Ingenieur oder wenigstens Meister.

Ein Glück, daß ich wenigstens nicht geheiratet habe. Luischen hat ja immer gebarmt. Und ich habe gesagt: ,Wer mich nimmt, Mutter, der hat's nötig.‘

Heute barmt sie nicht mehr. Guckt mir nur immer wie ein Kaninchen entgegen, wenn ich komme. ,Hat's geklappt?‘ fragt sie, und ich weiß nicht, was ich sagen soll. Sie hält alles nur für üble Tricks vom Honecker. ,Seine Rache, weil der weg mußte. Es gibt, solange die Welt noch steht, auch Eisenbahnen mit Lokomotiven‘, sagt sie immer. ,Und die müssen doch repariert werden von Lokschlossern.‘ Versteht nichts mehr, meine Mutter. Jedenfalls nicht den Unterschied zwischen Dampf- und Diesellok oder gar E-Lok. Versteh ich ja kaum.“

610 Mark Arbeitslosenunterstützung. Luischen hat 490 Mark Rente. Auf eine Sache ist sie mächtig stolz. „Ein Glück, daß ich den Garten nicht hergegeben habe“, sagt sie immer. „Was wurde mir immer zugesetzt. Aber wer zuletzt lacht. Jetzt wird wieder ordentlich Gemüse angebaut und ein paar Karnickel kommen auch in den alten Stall, wie damals in der letzten schweren Zeit.“ „Was sie noch nicht weiß“, der Lokschlosser Volkmar, ein harter, in sich gekehrter Mann, kämpft jetzt mit den Tränen, „die F9 nach dem Süden wird vierspurig gemacht. Unser Garten liegt genau in der Kurve. Das bringt sie um. Es bringt sie unter die Erde. Weil ich Rindvieh gebrüllt habe im Herbst 89. Aber ich werd wohl nicht abwarten, bis Luischen vor Jammer umkippt. Ich werd ihr bald mal sagen, ich hab wieder Arbeit gefunden, altes Hutzelmädchen. Sie wird trillern und den Korn holen, den sie immer versteckt. Wir werden einen kräftigen nehmen. So kräftig, daß sie nichts mehr merkt. Und dann, auf mit dem Gashahn. Wollte schon ein paarmal, lange vor der Wende. Wegen diesem Streuselkuchen und all dem anderen Scheiß. Die dreckige Arbeit, keine Frau sieht dich an. Nur Luischen. Aber immer hat sie mir halt schrecklich leid getan und ich hab's gelassen. Ich könnt's schon lange hinter mir haben. Es hat sich wirklich nicht gelohnt.“

Nun weint er, verloren, hoffnungslos, von Flechte und Verzweiflung entstellt. Und ich, obwohl es mir besser geht, heule mit. Einfach so. Keiner um uns herum wundert sich.

1991 Februar. Nachmittag in einer Thüringer Kneipe.