Tanzen gegen das Licht

■ Neues Bremer Buch über die 85-jährige Ex-Tänzerin Hilde Holger / Die taz besuchte sie in London

Die taz sprach mit der nunmehr 85-jährigen ehemaligen Ausdruckstänzerin in Camden Town im Norden Londons, wo Hilde Holger seit 1951 wohnt. Unweit des populären Camden Lock Flohmarktes betreibt die gebürtige Wienerin auch heute noch in ihrem Haus ein Tanzstudio. Wir sitzen in ihrem Arbeitszimmer zwischen kolumbianischen Masken, rotem Mobiliar, exotischen Muscheln und einem Gemälde eines Künstlers aus Sri Lanka, das Hilde Holger als Frau aus dem Feuer darstellt.

taz: Frau Holger, ihr Arbeitszimmer ist ein buntes Sammelsurium von Erinnerungen.

Hilde Holger: Ja, ich habe Farben gern, weil sie mich positiv stimmen. Zum Beispiel dieses Türkis an der Wand macht mich einfach froh. Auch der Einband meiner Biographie ist in Türkis gemacht.

Wie kommt ein junges Mädchen zu Beginn dieses Jahrhunderts dazu, expressionistischen Ausdruckstanz zu machen anstatt klassisches Ballett? Immerhin lebten Sie in Wien.

Das klassische Ballett hat mir nie zugesagt, weil das viel zu stilisiert war und nicht die Persönlichkeit des Menschen hervorbringt. Und ich hatte das große Glück, bei Gertrud Bodenwieser zu studieren. Die war wirklich bahnbrechend. Ich hab' sie immer verglichen mit einem Vulkan.

Und Ihr erster großer Erfolg?

Jedes Jahresende mußten die Studenten zeigen, was sie selbst an Choreographien geleistet haben. Ich hab damals einen Tanz gemacht, der hieß „Die Forelle“, nach Schubert. Ich hatte damals noch langes Haar und tanzte, und am Schluß zappelte die Forelle im Netz. Die Leute waren begeistert, und ich fragte mich selbst, was

hierhin die alte

Frau

Hilde Holger jetztFoto: Jutta Behling

mit denen los war. Sie kamen hinterher zu mir und sagten, daß sie so etwas noch nie gesehen hatten. Selbst der Direktor meinte: „I konnt mir gor net vorstellen, daß a Fischerl so an Erfolg hot“. Ich antwortete: „Herr Direktor, ich weiß es auch nicht.“

1939 sind Sie geflohen.

Wie Hitler eingezogen ist nach Österreich, habe ich gesehen, wie sie Menschen herausgerissen haben aus ihren Häusern. Wir haben gewußt, die werden umgebracht. Ich habe an alle meine Freunde geschrieben: „Rettet mein Leben“ und „Bringt mich irgendwo hin“. Schließlich gelang es mir, nach Bombay auszureisen.

Da waren Sie immerhin 33 Jahre alt, Sie hatten also bereits ein Leben hinter sich...

Der Anfang war schwer. Ich war sehr einsam, kaum jemand sprach Englisch, ich lebte in einem Hindu-Viertel. Wenn ich aus dem Haus herausging, schrien die Jungen: „Oh, schaut die Weiße an“. Ich habe mich gefühlt wie ein weißer Neger. Aber dann wurde mir ein junger Mann vorgestellt, ein Arzt. Das war mein zukünftiger Gatte.

Konnten Sie denn dort auch arbeiten?

Ein französischer Jesuitenpater hat mich engagiert. Ich durfte ja kein Geld von zuhause mitnehmen, also habe ich in einem großen Hotel für die Franzosen getanzt.

Zehn Jahre später, nach der Unabhängigkeit, gab es schwere Kriege zwischen den Moslems und den Hindus. Da war sie wieder, die Politik. Jetzt brachten sie schon wieder Menschen um. Da sind wir mit unserem ersten Kind nach England gegangen, mein Mann hatte dort studiert, und ich wollte auf keinen Fall jemals wieder in Österreich leben.

In London begannen Sie ihr drittes Leben?

Ich stand wieder vor dem Nichts, das war meine zweite Emigration. Als ich tanzen wollte, sagten sie mir, daß ich Vorträge halten solle, im Gegensatz zu uns, wo man mit der Praxis anfängt. Aber ich brauchte schließlich Geld. Die bürgerliche Anschauung, daß der Mann alles verdienen muß, war mir nie nah. Ich liebte meinen Beruf.

Wie ging es beruflich weiter?

Natürlich liegen meine künstlerischen Wurzeln in Wien, aber Indien war meine Inspiration und England ist meine Ausformung. Das gebe ich soviel als möglich an meine Schüler weiter. Die Briten sind sehr traditionell, für die war das etwas Neues, die verbanden mit meiner Anzeige „Modern Dance“ Tänze wie Samba und Rumba. Aber als wir mal in einer alten Kirche zusammen mit einem klassischen Ballett aufgetreten sind, und ich meinen Schülern schon sagte: „Die werden ganz bestimmt nicht klatschen, ärgert euch lieber nicht“, da war's ein unerhörter Erfolg und Aufträge haben wir auch bekommen.

Sie selbst haben ja wohl ein Leben lang ihren Körper trainiert, wie hört man denn da auf?

Vor 25 Jahren habe ich noch selbst auf der Bühne gestanden. Und heute noch mache ich jeden Morgen Übungen an der Stange. Aber leider habe ich die Tänzer- Krankheit Arthritis.

Sie haben einen geistig behinderten Sohn. Und Sie machen Tanzarbeit mit Behinderten...

Diese Kinder sind meistens sehr musikalisch und schöpferisch. So habe ich versucht, das Interesse an Tanz und Musik bei ihm zu wecken. Zu dieser Zeit war er in einem Zentrum. Ich fragte den Leiter, ob ich die ganze Gruppe unterrichten dürfe. „Auch wenn Sie mich für verrückt halten, ich möchte mit den Jungen eine Choreographie erarbeiten und auf die Bühne bringen.“ Wir nannten es „Gegen das Licht“ und die Zuschauer konnten es einfach nicht glauben, wie sie's gesehen haben. Einer meiner besten Schüler, Wolfgang Stange, hat es therapeutisch weiterentwickelt und hat große Erfolge bei Blinden und geistig Behinderten mit dem Ausdruckstanz. Es ist wunderbar. Jürgen Francke

Im Bremer Verlag Zeichen + Spuren erschien jetzt das Buch “Die Kraft des Tanzes“: Hilde Holger, Wien-Bombay-London , Das Buch zeichnet die Lebensgeschichte Frau Holgers anhand von Zeitdokumenten, Photos und Erinnerungen nach. Es kostet 38 Mark.