„1989 war das 20.Jahrhundert beendet“

■ Otto Kallscheuer, ehemaliger Dozent der politischen Philosophie, nunmehr Privatgelehrter, über deutsche und internationale Perspektiven

taz: Der Schock über das Ergebnis der Bundestagswahlen sitzt tief. Tritt nun mit den Grünen auch die politische Generation von 1968 ab?

Otto Kallscheuer: Den ersten Schock habe ich genauso wie viele andere empfunden. Aber wenn man mit etwas Abstand die Situation betrachtet, bin ich geneigt, den Schock zu relativieren, indem ich nämlich die deutsche Entwicklung im gesamteuropäischen Kontext einordne: Wir haben den historischen Übergang vom Kommunismus zu einer kapitalistischen Demokratie noch am besten gepackt — allerdings eher unverdient. In allen ehemals kommunistischen Ländern des Ostens, in Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei, auf dem Balkan hat sich bisher keine stabile Parteiendemokratie herausbilden können, statt dessen gibt es Tendenzen zu Präsidialregimes und nationalpopulistische Strömungen mit stark autoritären Zügen. Der polnische Politologe Alexander Smola, ein Berater des Ex-Ministerpräsidenten Mazowiecki, hat einmal gesagt: Wir in Osteuropa stehen vor dem Problem des Übergangs zu einer parlamentarischen Demokratie, ohne die Voraussetzung einer entwickelten zivilen Gesellschaft und einer sozial korrigierten Marktwirtschaft zu haben. Das heißt, man baut das Dach der parlamentarischen Demokratie ohne Fundamente. In Ostdeutschland wurden die Fundamente für das neue Haus von der Westfirma im Schnellverfahren gelegt — ohne Mieterbeteiligung allerdings. Das Haus ist nun relativ stabil, allerdings ein wenig ungemütlich. Aber man kann das Haus umbauen oder eine Hausordnung einführen — Stichwort Verfassungsdebatte. Auch beim Bau des europäischen Hauses brauchen die deutschen Untermieter in ihrem Teil keine solch große Angst vor Einsturzgefahren zu haben wie unsere östlichen Nachbarn. Und das ist geradezu ein unverdientes Glück.

Unverdient womöglich, aber nicht ohne Preis. Jetzt mal egoistisch nur auf die alte BRD bezogen, wäre die Ära Kohl ohne die deutsch-deutsche Zusammenlegung mit Sicherheit beendet gewesen. Nun aber genießen wir ihn weiterhin, die Grünen sind in Bonn so gut wie weg vom Fenster, und die Kritik an den Verhältnissen ist sehr viel schwieriger geworden, weil jetzt immer mit dem Finger gen Osten gezeigt werden kann: Dort war und ist immer alles noch viel schlimmer.

Klar, ohne die Vereinigung wäre jetzt wahrscheinlich Lafontaine dran, vielleicht ein bißchen grün verziert oder mit einer Ampelkoalition. Und der Verlust der Grünen ist durchaus ein sehr bitterer Wermutstropfen, er geht mir auch persönlich sehr nahe. Aber es besteht ja durchaus noch die Chance, daß die Grünen sich selbst reformieren. Die von der 'Süddeutschen Zeitung‘ veröffentlichte Meinungsumfrage zeigt doch deutlich, daß die Grünen in dem Moment ausgestiegen sind, wo der Common sense der Bundesrepublik grün geworden ist. Also im Moment ihres größten politischen Erfolges. Und das zeigt auch deutlich ihr politisches Versagen aufgrund interner Querelen.

Daß durch den Untergang des Realsozialimsus die Kritik an den Verhältnissen im Kapitalismus unmöglich sein soll, sehe ich nicht so. Die Tatsache, daß die staatssozialistischen Regimes weg sind, bewahrt uns doch nur vor der ärgerlichen Pflicht, bei jeder Gelegenheit der Kritik am Kapitalismus immer sagen zu müssen, aber so wie drüben wollen wir es doch gar nicht. Das ist eher eine Herausforderung dafür, daß die Kritik an unseren Verhältnissen präziser wird. Weggefallen ist dadurch allerdings die Möglichkeit, auf ein Gesellschaftssystem jenseits einer wie auch immer demokratisch korrigierten Marktwirtschaft zu verweisen. Das heißt, bei der Frage, wie eine sozial korrigierte und ökologisch implementierte Marktwirtschaft auszusehen hat, sind wir so klug als wie zuvor.

Durch die Erosion des Ostblocks wird doch auch nur verdeckt, daß der Kapitalismus in seiner jetzigen Form auch überhaupt nicht in der Lage ist, die globalen Probleme der Menschheit zu lösen — ob man nun die Klimakatastrophe betrachtet oder das Massenelend in Afrika und Lateinamerika.

Sicher, konzeptionell nötig ist eine linke und ökologische Kritik an der reinen Marktwirtschaft, also die Verhinderung eines Marktimperialismus. Wobei sich heute stärker als vor zehn Jahren die Frage der sozialen Disparitäten stellt, um nicht zu sagen der Klassenunterschiede zwischen Ost und West. Die „neue soziale Frage“, die Heiner Geißler in den 70er Jahren aufgebracht hat und nicht die Gewerkschaften, ist im neuen Deutschland bei den Arbeitslosen, bei den Obdachlosen und den Emigranten angesiedelt und wahrscheinlich auch in ganz neuen Dimensionen in den gegenwärtigen Jugendgenerationen, ob aus Kurdistan oder der Ex-DDR.

Zeigt sich da nicht auch plötzlich in aller Peinlichkeit die Brüchigkeit der bisherigen linken Gesellschaftskritik?

Ja, natürlich. Aber das politische Feld, um es mit Habermas zu sagen, wird nun mal immer komplizierter und unübersichtlicher. Es wird immer schwieriger, eine Frage zu isolieren, ob es nun die aus dem 18. Jahrhundert stammende Bürgerrechtsfrage ist, die Klassenfrage aus dem 19. Jahrhundert oder die Gattungsfrage aus dem 21. Jahrhundert. In einer modernen Industriegesellschaft sind die einzelnen Subsysteme so vernetzt, daß die Frage etwa einer anderen Energiepolitik sofort auch zurückweist auf soziale Fragen. Diese Vernetzung ist natürlich intellektuell schwer zu bewältigen, und aus ihr folgte sicherlich innerhalb der Grünen die hohe Attraktivität des Fundamentalismus, der ja weniger auf konkrete politische Outputs aus war als auf die Bewahrung der eigenen Identität. Man konnte Zahnarzt sein, aber gleichwohl der radikalste.

Siehen Sie die PDS auch als Fundipartei?

Ja, auf dieses Bedürfnis antwortet heute auch die PDS. Die beerbt heute sämtliche Themen der Grünen — und Gregor Gysi kann da ja auch ganz charmant machen — und entwickelt sich bei allen Fragen zu einer radikalen Neinsager-Partei. Wenn etwa Detlev zum Winkel im 'Neuen Deutschland‘ schreibt, lautet die klassische Schlußfolgerung immer: Das kapitalistische System ist nicht reformierbar. Ein solcher Diskurs setzt voraus, daß ein anderes System jenseits des Kapitalismus möglich sei. Ich denke aber, daß unter demokratischen Voraussetzungen jedes andere System genauso oder noch mehr mit den Schwierigkeiten der Kontrolle von Gesetzen, des Respektes der Souveränität der Wähler oder von Konsumentenentscheidungen konfrontiert wäre.

Mittelfristig gesehen könnte dadurch höchstens ein nach linker Identität dürstendes Randpotential gebunden werden, das früher die Grünen gewählt hat, aber unter demokratischen Gesichtspunkten wäre das vielleicht auch gar nicht so schlecht. Für die Rechte gilt das umgekehrt nicht. Die Vereinigung hat den Reps den Todesstoß gegeben, und demokratiepolitisch wäre es unter Umständen wünschbar gewesen, wir hätten eine Splitterpartei auch am rechten Rande, weil dann ein Teil des rechtsradikalen Potentials vielleicht von Straßenkämpfen abgehalten würde.

Diskutieren wir hier nicht vielleicht doch nur Mittelstandsprobleme? Sozusagen die Luxusmodernisierung des Kapitalismus? Der stinknormale Brutal-Kapitalismus tobt sich doch nicht hier aus, sondern beispielsweise in den von den Auflagen des Weltwährungsfonds gebeutelten Ländern, in denen derzeit von der Wasser- und Stromversorgung bis zum Fernsehen alles privatisiert wird, in denen sich der Staat also ganz unmarxistisch selber abschafft und die Massen ins Elend treibt.

Ja, aber was folgt daraus? Sollen wir die Leninschen Devise vom schwächsten Glied umkehren und nun so lange warten, bis die pobladores im Weltmaßstab die Macht ergriffen haben? Das Paradox ist doch, daß nur die durch ökologische Mittelständler vertretene moralische Kritik der heutigen Weltwirtschaftsordnung in der Lage ist, in den Schaltstellen des Kapitals politische Mehrheiten für andere Spielregeln im Umgang mit diesen verschuldeten Ländern der Dritten und Vierten Welt zu schaffen. Jedenfalls wird sich durch die deutsche Vereinigung und die Öffnung Europas — das die Dritte Welt ja nun auch im Osten vor der Haustür hat — zeigen, ob die Ökologie ein reines Mittelstandsproblem war, und das glaube ich nun nicht.

Und wie stellen Sie sich die Verbindung der sozialen und ökologischen Frage vor?

Da hätte es von grüner Seite durchaus Antworten geben können. Wann, wenn nicht zu Zeiten der Vereinigung, hätte das Thema garantiertes Mindesteinkommen aufs Schild gehoben werden müssen? Das hätte eine vergleichsweise unbürokratische soziale Abfederung in Ost und West bedeuten können und eine ökologische Entlastung der verdreckten Problemregionen, in deren Betriebe Entlassungen unumgänglich sind.

Wenn Sie Kaiser von Deutschland wären, Otto der Erste, was würden Sie tun?

Diese Frage muß ich als Demokrat zurückweisen. Aber ich würde sicherlich versuchen — eine Reformmehrheit sollte versuchen —, das garantierte Mindesteinkommen und ein kontrolliertes Einwanderungsrecht einzuführen, so etwa, wie es Claus Leggewie vorgeschlagen hat. Also irgendwelche Prozentstaffeln, die aber nicht von der jeweiligen populistischen Mehrheit abhängen dürfen, sondern von Interessengruppen der Ausländerbeiräte, und ein Bürgerrechtsstatus nach dem Territorialprinzip garantieren: die gleichen Rechte für alle Menschen, die hier länger als fünf Jahren wohnen, egal ob sie aus Kasachstan stammen oder aus Oberschöneweide. Und bei dieser Frage der Bürgerrechte sollte sich die deutsche Demokratie im europäischen Rahmen fundamentalistisch zeigen. Das wichtigste politische Problem der Zukunft ist, daß wenigstens einheitliche europäische Rechtsansprüche für Immigranten geschaffen werden.

Haben Sie selbst noch eine Utopie?

Nun ja, meine Utopie im Zeichen des Golfkriegs ist eine sehr alte. Immanuel Kant hat in seiner Schrift Zum ewigen Frieden die Utopie des weltbürgerlichen Zustandes beschrieben, bei der die Kriegsvermeidung darin besteht, daß alle Staaten demokratische Republiken sind. Und wenn man genau hinschaut, wird man in den letzten zweihundert Jahren kaum feststellen, daß zwei Demokratien gegeneinander Kriege geführt haben. Es waren fast immer Diktaturen gegen Demokratien oder umgekehrt. Das wäre also die alte Utopie der republikanischen Weltgesellschaft. Und man kann durchaus behaupten, daß es derzeit Schritte in diese Richtung gibt. Selbst bei den weltweiten Zentralen des Kapitals gibt es erste Ansätze, nicht mehr immer nur mit der Politik der Stärke zu agieren. Das sind natürlich nur winzige Schritte, und auch beim Golfkrieg besteht meiner Ansicht nach das Problem darin, daß die UNO-Entscheidungen de facto an die USA delegiert worden sind, und ohne die Vereinigten Staaten von Europa wird sich das auch nicht ändern.

Dem grassierenden Pessimismus hängen Sie also nicht an?

Nein. Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos. Der Pessimismus dient doch nur zur eigenen Seelenpflege. Da heißt es dann: Die deutsche Vereinigung ist über uns hereingebrochen, oh Gott, jetzt ist wieder alles so furchtbar, aber ich wasche meine Hände in Unschuld. Es kann sogar sein, daß Niederlagen heilsam sind. Der neue Start zur Alternativökonomie, zur Gründung der taz und der Grünen war nur möglich, nachdem durch den Deutschen Herbst 1977 zur Zeit der Schleyer-Entführung klar geworden war, daß der Weg der bewaffneten Revolution nicht funktioniert. Diese Korrektur fand in Gestalt einer Niederlage statt, sie hat zur einer kulturellen Innovation geführt. So könnte es sich auch mit der Niederlage der Grünen darstellen, vielleicht auch in Form einer anderen Bürgerrechtspartei, ich weiß es nicht.

Könnte es sein, daß es eine Art von Geschichtsverschlingung gibt? Formal gab es in Ost und West das gleiche Datum 1989, aber tatsächlich herrschten dort verschiedene Zeiten. Und jetzt, wo sie zusammenprallen, fallen dabei sozusagen die ganzen Vergangenheiten heraus: die Erinnerung an die bürgerliche Revolution 1789, die verdrängte Zeit des Nationalsozialismus, die Restauration der 50er Jahre...

Selbstverständlich. Man sollte sich nur davor hüten, den Ossis so einfach vorzuwerfen: Ihr bringt uns zurück in die 50er Jahre, wir waren doch mit 1968 schon sehr viel weiter. Natürlich bringt uns der Zusammenbruch des Ostblocks und der Sowjetunion das 19. Jahrhundert mit seinen Nationalismen zurück. Das Paradoxe ist nur, daß in dieser Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen große Chancen liegen — und darum sollte die deutsche Linke endlich aufhören zu jammern —, das Wiederaufkommen der Vergangenheit mit den westlichen postmodernen Strömungen zu verknüpfen. Die Chancen, aus diesem Kuddelmuddel heil herauszukommen, sind bei uns sehr viel besser als in Polen oder der Tschechoslowakei. Eine neue Zeit hat auf jeden Fall begonnen. Das 18. Jahrhundert hörte 1789 auf, das 19. endete 1914 und das 20. Jahrhundert 1989. Man könnte in Abwandlung von Trotzkis Kritik am „Sozialismus im einem Land“ sagen, Demokratie ist auf lange Sicht nur in einem Kontinent möglich. Gewiß, wie der alte Keynes sagte, „in the long run we are all dead“. Aber die Aufgabe einer Demokratisierung der internationalen Beziehungen steht heute wieder — nach dem Ende des Bipolarismus, wo es reichte, die Außenpolitik an die Entspannung zwischen zwei Supermächten zu delegieren — auf der Tagesordnung. Auch außenpolitisch wird eine freiheitliche Linke in den Ländern der Ersten Welt damit wichtiger denn je. Interview: Ute Scheub