„Auf ein Wunder gewartet“

■ Ein Gespräch mit dem Physiker Günther Jungk in der taz-Serie „Gespräche mit Evaluierten & Evaluierenden“

Günther Jungk studierte 1953 bis 1960 an der Berliner Humboldt-Universität Physik, wechselte dann in das damalige Physikalisch-Technische Institut der Akademie der Wissenschaften, heute Zentralinstitut für Elektronenphysik (ZIE); 1966 Promotion über „Nichtgleichgewichtsprozesse in Halbleitern“; 1978 Habilitation; seit Dezember 1990 Leiter des Bereichs „Grundlagen der Halbleiterphysik“; Vorsitzender des Wissenschaftlichen Rates im ZIE.

taz: Als die Forschungsminister Riesenhuber und Terpe den Wissenschaftsrat der Bundesrepublik baten, die Akademie-Institute zu evaluieren, löste das allgemeine Zustimmung aus. Wie wurde es in Ihrem Institut aufgenommen?

Günter Jungk: Zunächst positiv, weil die Mehrheit der Mitarbeiter davon überzeugt war, daß die bisherige Organisation und die wissenschaftlichen Inhalte verändert werden müßten. Viele Mitarbeiter, nicht alle, erhofften sich von der Evaluierungskommission, die uns in einer hochkarätigen Besetzung angekündigt wurde, Hilfe von außen.

Aber in den Akademie-Instituten liefen doch Reformen: Die Direktorenposten wurden neu besetzt, Personalräte und Wissenschaftliche Räte konstituierten sich. Dennoch wechselte der Direktor in Ihrem Institut erst nach der Evaluierung.

Man muß deutlich unterscheiden zwischen dem Veränderungswillen einiger Mitarbeiter und den Tatsachen. Die Menschen in der DDR und natürlich auch in unserem Institut sind von den Veränderungen überrascht worden. Unser ehemaliger Direktor wurde erst Anfang 1989 in sein Amt berufen. Er erhielt von uns, als die Vertrauensfrage gestellt wurde, einen erheblichen Vertrauensvorschuß. Aber notwendige Reformen blieben auf der Strecke oder wurden (leider) hinausgezögert. Dadurch entstanden zwischen den reformwilligen und retardierenden Kräften Diskrepanzen. Das fiel sicher auch der Evaluierungskommission bei Gesprächen mit den Mitarbeitern auf und führte zu gewissen Kontaktschwierigkeiten zwischen den Evaluierern und der Institutsleitung. Der Direktor äußerte wenige Tage nach der Evaluierung den Wunsch, von seinem Amt enthoben zu werden. Er glaubte, für die zukünftigen Aufgaben zur Erhaltung des Instituts nicht mehr geeignet zu sein. Ich schätze diese Haltung sehr.

Worin lagen die Kontaktschwierigkeiten?

Die alte Institutsleitung konnte sich nur schwer von bestehenden Strukturen und Inhalten lösen. Dabei spielte sicher auch der berechtigte Wunsch, Arbeitsplätze zu erhalten, eine Rolle. Aber die Evaluierer drängten deutlich auf Veränderung.

Inzwischen wurde evaluiert...

Wir waren das erste von insgesamt neun physikalischen Instituten und wurden Ende September begutachtet. Nach der Evaluierung erfolgten interne Veränderungen. Die Einordnung in das wissenschaftliche Leben der Bundesrepublik wird noch viel Zeit benötigen. Leider kommt bei den Mitarbeitern der Gedanke auf, daß die innere Reinigung, die strukturellen Veränderungen und die Einpassung in die Wissenschaftsorganisationsform der alten Bundesländer nicht aus dem Stand zu schaffen sind.

Warum ist das nicht zu schaffen?

Weil wir es nicht gewöhnt sind, in dieser Art zu arbeiten und viele Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Die Jüngeren leiden unter ihrer schulartigen Universitätsausbildung; Reformen, auch geistige, sind im Frühjahr steckengeblieben. Außerdem kommt die Konkurrenzsituation dazu. Es gibt in den alten Bundesländern durchaus Wissenschaftler, die sich für uns einsetzen, etwa mit dem Versuch, gemeinsame Projekte zu bearbeiten. Andererseits gibt es nur einen begrenzten Futtertopf für uns alle. Da muß man also schon konkurrenzfähig sein und versuchen, insbesondere die materiellen Nachteile — experimentelle Ausrüstung beispielsweise — rasch auszugleichen.

Aber nicht mit einem Mitarbeiterstab von fast 700 Leuten...

Es waren 690, inzwischen sind wir unter 600. Das klingt gewaltig, aber das Zentralinstitut für Elektronenphysik war sehr breit gefächert in Bereiche wie Plasmaphysik, angewandte Festkörperphysik, Grundlagen der Festkörperphysik usw. Früher war die Forschung der Akademie vorbehalten und die Ausbildung den Universitäten. Bei uns kam ein Konglomerat zustande, was schon der scheußliche Name „Zentralinstitut“ und das inhaltsleere Wort „Elektronenphysik“ widerspiegeln. Jetzt wollen wir, damit folgen wir auch den angedeuteten Empfehlungen der Evaluierungskommission, das ZIE in thematisch kleiner orientierte Einheiten zerlegen. Aber nun stehen wir vor der Schwierigkeit anzugliedern, ohne unsere zukünftigen Partner zu bedrängen.

Wer fühlt sich bedrängt?

Ich sage Ihnen ein Beispiel: Wir fassen gerade die grundlagenorientierten Abteilungen unseres Instituts zusammen, aber eine Angliederung an eine Universität, wie die Humboldt-Universität oder die Technische Universität, ist schwierig. Die Humboldt-Uni hat selbst Personalprobleme, und die TU müßte ihren finanziellen Rahmen erweitern, um uns aufnehmen zu können.

Viele Institute haben den Fragebögen Konzeptionen über künftige Strukturen beigelegt...

Das haben wir auch gemacht, aber viel zu kurz. Die Konzeption wurde unter anderem auch vom Wissenschaftlichen Rat unseres Instituts miterarbeitet. Dabei stießen retardierende und reformwillige Kräfte heftig aufeinander. Jeder wollte seinen Bereich retten. Das änderte sich mit dem neuen Direktorium zum besseren. Für mich war der damals nicht zu übersehende Egoismus vieler Leiter, auch bedingt durch die inhaltliche Zersplitterung des Instituts, eine bedrückende Erfahrung.

Wann war die Evaluierung und wer evaluierte?

Ende September kamen drei Wissenschaftler aus der ehemaligen DDR, Professoren von Universitäten und anderen wissenschaftlichen Einrichtungen aus der alten Bundesrepublik, die von Mitarbeitern des Ministeriums für Forschung und Technologie sowie dem nordrheinwestfälischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur unterstützt wurden. Kopfzerbrechen machte uns die Tatsache, daß die Kommission zwar als Physikkommission sehr kompetent war, aber einige Zweige der angewandten Forschung nicht exakt beurteilen konnte. Das erkannte sie selbst und schlug deshalb vor, eine Beurteilung durch die Fraunhofer-Gesellschaft vornehmen zu lassen. Der große Bereich der Niedertemperatur-Plasmaphysik wurde nachträglich von kompetenten Plasmaphysikern bewertet.

In der Evaluierungskommission war auch ein ehemaliger DDR-Physiker, Harald Fritzsch, der 1968 bei einer Dienstreise wegblieb. Vor einiger Zeit urteilte er öffentlich über die DDR-Physikwissenschaft, die er als eine Wüste bezeichnete. Geht so ein Mensch nicht schon mit Vorurteilen ran?

Sicher ist es nicht günstig, bereits im Vorfeld seine Meinung kundzutun. Aber ein Teil seiner erhobenen Vorwürfe hinsichtlich der Professoren-Ernennungen und deren Kompetenzen und daraus resultierenden Folgen sind richtig, sowohl in unserem Institut als auch in der Humboldt-Universität. Auch seine Ablehnung eines Schnellverfahrens auf dem Weg zur Einheit der Forschung kann ich nur begrüßen.

Sind Sie auch bei den anderen Evaluierern auf diese Vorurteile gestoßen?

Auf Vorurteile nicht, eher auf Unkenntnis und Überraschung und auf einen zu oberflächlichen Vergleich mit 1945.

Wollten die Evaluierenden auch etwas über die alten SED-Strukturen wissen?

Danach wurde gelegentlich gefragt, aber mehr in humoristischer Form. Uns wurde dabei vor allem klar, daß ein erheblicher Teil der Reinigung von uns selbst gemacht werden muß. Wir haben immer noch auf ein Wunder von außen gewartet, das nicht eintritt und auch gar nicht verlangt werden kann. Eine dreißigjährige Trennung der beiden Wissenschaftslandschaften hat auch bewirkt, daß Personalfragen verdeckt blieben. Es gibt nur wenige Wissenschaftler aus den alten Bundesländern, die sich bewußt bemühten, den Kontakt nicht abreißen zu lassen. Von der östlichen Seite reisten nur die sogenannten Reisekader, von denen ein Teil belastet war. Da kann man die Vorbehalte der westlichen Kollegen gegenüber diesen Personen verstehen.

Wurden schon Vorstellungen seitens der Evaluierenden geäußert?

Ja, aus dem großen Institut sollen vier oder fünf kleinere werden. Außerdem kursiert die Zahl von 30 Prozent, daß heißt, 30 Prozent der Mitarbeiter werden bleiben. Wenn das eintritt, werden sowohl das wissenschaftliche als auch das technische Personal in eine brisante soziale Situation geraten. Die Dauerarbeitslosigkeit wäre für viele unabwendbar.

Wann rechnen Sie mit einer definitiven Entscheidung?

Spätestens im März will der Wissenschaftsrat für alle physikalischen Einrichtungen die Empfehlungen abgeben. Auf jeden Fall war die Evaluierung notwendig und in wesentlichen Teilen auch hilfreich. Die Umsetzung unter Vermeidung von sozialen Härten und Ungerechtigkeiten scheint aber noch völlig in den Sternen zu stehen. Die Unsicherheit der Mitarbeiter und die Erkenntnis, daß sie sich von einer ungerechten Gesellschaft in eine neue einzupassen haben, ist für viele deprimierend. Die marktwirtschaftlichen Erfolge der für uns neuen Gesellschaft basieren auch auf den Motiven des persönlichen Egoismus. Dieser Egoismus ist so stark, das sieht man am Golfkrieg, daß ich die skeptische Haltung vieler der Zukunft gegenüber teile.

Interview: Bärbel Petersen