: Die Teilkultur im Neon-Leibchen
■ Die Leichtathleten aus den fünf neuen Bundesländern dominierten die Hallenmeisterschaften in Dortmund: Der windschnittige Neon-Einteiler löst Hammer-und Sichelanzug ab
Dortmund (taz) — Eines ist sicher. Der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) wird bei den in zwei Wochen beginnenden Hallen-Weltmeisterschaften im spanischen Sevilla viel Grund zur Freude haben. Denn, „die höchstentwickeltste Teilkultur der DDR“, wie Walter Ulbricht einmal den Sport im anderen Deutschland nannte, hat trotz Einheitstrubel und Pleitegeier offensichtlich nichts von ihrer Qualität verloren.
Schon gar nicht am zweiten Tag der ersten gesamtdeutschen Hallenmeisterschaften in Dortmund. Die Verstärkung, die dem DLV aus dem Osten in die Rudi-Körnig-Halle kam, konnte sich sehen lassen. Wenn auch die Athletinnen aus der ehemaligen DDR nur ein Achtel der rund eintausend Teilnehmer stellten, so rückten sie doch schnell wieder die alten Verhältnisse zurecht. Siegertreppchen für Siegertreppchen erklommen vor allem die Frauen aus den neuen Bundesländern. Kein Wunder eigentlich, waren sie doch bis zur Wende die sportlich Besten der Welt. Was sich heute auch im Outfit äußert: Die netten blauen Trainingsanzüge mit Hammer und Sichel wichen leuchtenden Neon-Einteilern. Nur die Leistungen blieben fast die alten.
In der Halle kam erstmalig Stimmung auf, als die zweifache Hallen- Weltrekordlerin Heike Drechsler zum Weitsprung anlief. Rythmisches Klatschen wies der Jenarin schnurgerade den Weg in die Sandgrube. Sie bedankte sich mit einem Satz von 6,86. Diese für sie noch schlappe Weite versetzte die Zuschauer bereits in Entzücken. Als Heike Drechsler dann zum sechsten Versuch die neue Weltjahresbestleistung von 7,18 sprang, standen die Fans Kopf.
Noch temperamentvoller wurde es, als Katrin Krabbe sich anschickte, die 60 Meter zu laufen. Was sie derart anregte, daß sie die Strecke blitzschnell in der neuen Weltjahresbestleistung von 7,07 Sekunden zurücklegte, um dann ähnlich geschwind den überall lauernden Fotografen zu entwischen. Eberhard König, Frauentrainer des SC Turbine (jetzt TSV) Erfurt und seit Neujahr im Diensten des DLV, zollte der Lebenshaltung Krabbes seine Hochachtung. „Was Katrin Krabbe so stark macht, ist die Verbindung von Traditionspflege plus dem konsequenten Ausnützen der Marktwirtschaft“, glaubt der Coach das Erfolgsgeheimnis gelüftet zu haben. Beide Elemente zu vereinen, rät er auch seinen Athletinnen.
Wie schwer es aber immer mehr Ex-DDR-Leichtathletikstars fällt, in dem Verein zu bleiben, der sie groß machte, weiß Eberhard König ebenso. Den Angeboten aus dem Westen vermögen viele nicht mehr zu widerstehen, Traditionspflege hin oder her. Innerhalb von nur drei Monaten verlor der Trainer vier Spitzenathleten an Klubs im Goldenen Westen. „Die, die bleiben, sind häufig nicht mehr konzentriert genug, ihre Motivation leidet.“
Die Erfurterin Katrin Schreiter, die auf der 400-Meter-Strecke knapp gegen Sandra Seuser verlor, bekennt, daß sie eigentlich ganz andere Sorgen hat. „Die letzen vier Jahre meines Lebens habe ich durch den Leistungssport verloren.“ Katrin Schreiter hat weder eine abgeschlossene Berufsausbildung noch eine feste Wohnung. Ein leistungsbezogener Vertrag mit einem Mikro-Elektronik-Konzern in Erfurt ist zwar mittlerweile abgeschlossen, aber dem ehemaligen Kombinat plagt eine miese Auftragslage und Katrin Schreiter eine ungewisse Zukunft. Die Leichtathleten aus den neuen Bundesländern verbreiten eben, wenn einer über die Anzeigentafel hinausschaut, doch nicht nur Frohsinn. Torsten Haselbauer
FRAUEN: 60 m: Katrin Krabbe (Neubrandenburg) 7,06 Sek., 200 m: Grit Breuer (Neubrandenburg) 22,85 Sek., 400 m: Sandra Seuser (Berlin) 52,76 Sek., 800 m: Sigrun Grau-Wodars (Neubrandenburg) 2:01,74 Min., 1.500 m: Ellen Kießling (Dresden) 4:06,50 Min., 3.000 m: Uta Pippig (Berlin) 8:56,44 Min., 60 m Hürden: Claudia Zaczkiewicz (Weinheim) 8,12 Sek., 3.000 m Gehen: Beate Anders (Berlin) 11:56,0 Min. (Weltrekord)., 4 x 200 m: Leverkusen 1:36,16 Min., Hochsprung: Heike Henkel (Leverkusen) 1,98 m, Weitsprung: Heike Drechsler (Jena) 7,18 m, Kugelstoßen: Stephanie Storp (Wolfsburg) 19,43 m.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen