Gruppenreise gen Westen

■ Zum Gipfeltreffen zwischen Polen, Ungarn und der CSFR

Soll die „Rückkehr nach Europa“ in gegenseitiger Abstimmung und Rücksichtnahme erfolgen oder unter kräftigem Gebrauch der Ellbogen und nach der Devise: „Jeder für sich und Gott gegen alle“? Auf der altehrwürdigen Burg Visegrád im Donauknie haben sich die drei ostmitteleuropäischen Länder Polen, Ungarn und die CSFR jetzt versprochen, den steinigen Weg zur EG gemeinsam zu gehen. Noch vor Jahresfrist war ein entsprechendes polnisches Kooperationsprojekt am Widerstand der CSFR gescheitert. Zu deutlich war die Absicht gewesen, ein Gegengewicht zum vereinten Deutschland zu schaffen. Wenn jetzt die feierliche Erklärung von Visegrád proklamiert, das Bündnis richte sich gegen niemanden, dann stimmt das sogar. Zwar wird in der Region oft gewitzelt, man wisse nicht, ob man das deutsche Kapital mehr fürchten oder es mehr herbeisehnen solle, die Ängste vor „Groß-Deutschland“ sind jedenfalls verflogen.

Wichtiger noch ist, daß die Visegráder Übereinkunft keine Stoßrichtung gegen die Sowjetunion enthält. Gorbatschow hatte sich ins Unvermeidliche geschickt und einem vorzeitigen Begräbnistermin für die militärische Struktur des Warschauer Vertrages und für den RGW zugestimmt. Im Gegenzug werden sich die Ostmitteleuropäer bei Eintrittsgesuchen in die Nato ein Weilchen zurückhalten und — aus wohlerwogenem Eigeninteresse — an einer Reihe von Kooperationsprojekten mit der Sowjetunion festhalten. Die in Visegrád anwesenden Staatsleute haben sich auch gegenseitige Unterstützung beim Aufbau der demokratischen Institutionen zugesichert, den nationalistischen Extremismus kritisiert, die Rechte der nationalen Minderheiten bekräftigt und damit an die spezifisch ostmitteleuropäische Vision einer „civil society“ angeknüpft.

So weit, so gut. Die Erklärung von Visegrád wird in Brüssel, wo die Kommission die Wirrnisse in der Sowjetunion und Jugoslawien mit entsetzter Bewegungslosigkeit verfolgt, gewiß wohlwollend vermerkt werden. Bleibt die beunruhigende Tatsache, daß, während die Ostmitteleuropäer mit Hilfe der westlichen Verwandten Versuche zur Selbstrettung unternehmen, die Balkanstaaten und die Nationen der desintegrierenden Sowjetunion ökonomisch und politisch im Chaos zu versinken drohen. Einst hatten die politischen Denker Ostmitteleuropas vom unglücklichen Benes bis zu Jiri Dienstbier von einer Mittlerfunktion ihrer Staaten, des „zweiten“ Europa, zum „dritten“, dem östlichen, orthodoxen, unterentwickelten Europa gesprochen. Davon ist jetzt keine Rede mehr. Kann aber von politischer Stabilität in der Region, in ganz Europa die Rede sein, wenn die Grenze des „Westens“ jetzt zwar nicht mehr an der Oder, wohl aber am Bug verläuft? Christian Semler