Überleben auf Nicaraguas Gesundheitsmarkt

Das Gesundheitspersonal von Nicaragua befindet sich im Bummelstreik/ Schlechte Ausstattung und chaotische Versorgungslage der staatlichen Krankenhäuser/ Patienten müssen für gute Behandlung draufzahlen, Ärzte verdienen in Privatkliniken dazu  ■ Aus Managua Ralf Leonhard

Seit Wochen befinden sich Ärzte und Krankenschwestern im Streik, um auf die katastrophale Versorgungslage der Gesundheitseinrichtungen und ihre niedrigen Gehälter aufmerksam zu machen. Immer wieder finden Demonstrationen und Spitalbesetzungen statt. Auch andere Angestellte des öffentlichen Dienstes, darunter Lehrer, befinden sich im Ausstand. Sie protestieren gegen eine angeblich bevorstehende Entlassungswelle.

Der Medizinerstreik ging Mitte Januar von einer Gruppe von Ärzten in Managuas Kinderkrankenhaus „La Mascota“ aus. Eine Woche später hatten sich alle Spitäler der Hauptstadt angeschlossen, inzwischen ist auch das Gesundheitspersonal in der Provinz im Ausstand. Es handelt sich um eine Art Bummelstreik, das heißt, weniger dringende Behandlungen werden aufgeschoben. Die Ärzte fordern Gehälter von 800 bis 2.000 Dollar, je nach Dienstalter und Spezialisierungsgrad, Krankenschwestern wollen 200 Dollar verdienen. Außerdem verlangen die Gesundheitsarbeiter anläßlich anhaltender Gerüchte über weiteren Personalabbau wirksamen Entlassungsschutz, und nicht zuletzt die dringende Verbesserung der Versorgung der Krankenhäuser mit medizinischem Gerät und Arzneimitteln. Die prosandinistische Gewerkschaft Fetsalud stellte sich erst hinter den Streik, als es nicht mehr nur um Lohnforderungen der Ärzte ging, sondern das gesamte Gesundheitspersonal einbezogen wurde.

Gesundheitsminister Ernesto Salmeron, der ein schmales Budget von 83,5 Mio. Dollar verwaltet, schwankte zwischen Zorn und Hilflosigkeit. Erst beschimpfte er die Ärzte als nekrophile „Krämerseelen“, dann gab er zu, daß die Gehälter unzureichend seien. Doch 51 Prozent seines Haushaltes sind jetzt schon als Personalkosten verplant. Eine Erhöhung des Mindestlohnes auf 200 Dollar, so rechnete er vor, würde zusätzliche 54 Mio. Dollar erfordern. Als Entgegenkommen bot er den Ärzten langfristige Kredite für den Ankauf von Privatfahrzeugen an. „Das ist ein Hohn“, meinte ein Vertreter der Fachgewerkschaft Fetsalud, „wir können kaum unsere Familie ernähren. Wie sollen wir da noch ein Auto erhalten?“.

Zweihundert Dollar — das verdient ein Jungarzt mit Überstundenzulage. Eine Krankenschwester bekommt 90, eine Reinigungsfrau im Krankenhaus 40 bis 50 Dollar. Zum Vergleich: Ein Nachtwächter im Transportministerium bekommt etwa das Dreifache, eine Sekretärin im Wasserwerk kann ohne Überstunden auf ein Ärztegehalt kommen. Selbst diese Löhne sind aber, gemessen am Preisniveau, viel zu niedrig. Die akkumulierte Inflation betrug im Vorjahr 13.000 Prozent, Lebensmittelpreise liegen auf europäischem Niveau, Kosmetikartikel, modische Kleidung und Elektrogeräte sind teurer als in den USA.

Was unter der sandinistischen Regierung noch die Ausnahme war, ist jetzt für die meisten Fachärzte Überlebensstrategie: Sie praktizieren nachmittags in der eigenen Klinik oder in einem der Privatkrankenhäuser, wo sie gut und gern 3.000 Dollar monatlich erwirtschaften können. Dort sind auch die Überlebenschancen für Patienten nachgewiesenermaßen höher. Viele Ärzte beschränken ihre Morgenvisite im Staatskrankenhaus auf zwei Stunden und setzen sich dann in die eigene Ambulanz ab. „Das gilt aber nur für eine Minderheit“, klagt Adrian Zelaya, Internist im Manolo-Morales-Krankenhaus in Managua, „wo soll unsereins das Geld für die Einrichtung einer eigenen Praxis hernehmen? Außerdem können die meisten Patienten sowieso nicht bezahlen.“

In den Provinzkrankenhäusern lassen sich die Mediziner für bevorzugte Behandlung bezahlen. Im „Manolo Morales“ mußten wochenlang Zuckerlösungen als Infusionen verabreicht werden. Diabetiker waren dadurch von der Behandlung ausgeschlossen. Beatmungsschläuche für die Anästhesie, die den deutlichen Aufdruck „do not re-use“ tragen, werden wiederverwendet, bis sie zu Bruch gehen. In der neurochirurgischen Abteilung des Antonio-Lenin-Fonseca-Krankenhauses fehlen seit einem Jahr Bohrer für Schädeltrepanationen. Sägeblätter für die Knochensägen, die normalerweise nach sechs Monaten ausgewechselt werden, müssen zwei Jahre verwendet werden. Stellte früher das Krankenhaus die Medikamente zur Verfügung, so wird der Patient jetzt mit einem Rezept auf den freien Markt geschickt, wo die Arzneimittel zu horrenden Preisen vorhanden sind. Wer nicht Blutplasma und Infusionslösung selber mitbringt, wird im Frauenspital Bertha Calderon gar nicht operiert.

„Natürlich gibt es auch Vandalismus, aber das ist nicht die Hauptursache für die katastrophale Versorgungssituation“, beteuert der Orthopäde Ernesto Ruiz im Lenin-Fonseca-Krankenhaus. Gelegentlich nimmt ein Arzt ein Instrument mit in seine Privatpraxis oder eine Krankenschwester staubt Medikamente ab. Auch Patienten lassen gern einmal das Leintuch mitgehen. Eine österreichische Spende von 2.000 Bettlaken war binnen drei Monaten um 30 Prozent geschrumpft.

„Die Verschlechterung begann mit dem Fall der Mauer“, meint der Neurochirurg Ernst Fuchs. Die DDR und Bulgarien hatten bis dahin Medikamente zu Spottpreisen an Nicaragua verkauft. Seit dem Machtwechsel sind auch die Lieferungen von Medicuba ausgeblieben. Die Spenden aus den USA, die mit großer Publizität hier eingeflogen werden, sind nicht mehr als ein Tröpfchen auf den fieberheißen Körper.