Brief an Wolf Biermann nach einer Talkshow

■ Die Schauspielerin Käthe Reichel und Wolf Biermann verbindet eine vierzigjährige Freundschaft

Die taz erhielt einen Brief von der Berliner Schauspielerin Käthe Reichel, den wir im Wortlaut veröffentlichen.

Berlin, 17.2.91

Der Ton dieser Antwort ist nicht der Ton Ihrer Zeitung. Aber Biermann und mich verbindet eine vierzigjährige Freundschaft, und ich kann daher meine Verwunderung jetzt nur so verbinden, wie sie das Maß der Freundschaft bindet.

Lieber Wolf Biermann,

Ich bin keine junge Frau mehr und möchte Dir gerne sagen, was ich weiß, weil wir Freunde sind und es ein nicht aufzuholender Fehler ist, eine Schlechtigkeit, wenn die Freundschaft da, wo der Freund einen gefährlichen Fehler macht, in Schweigen verfällt. Also, was weiß ich. Erfahrenes Unglück ist kein Schmuck, den man öffentlich anlegen kann. So wenig, wie man das mit dem großen Glück kann. Beide, wenn sie tief genug waren, liegen in der Lade der Erfahrung, und die Erfahrenen können kaum darüber sprechen. Die Stimme der Erfahrung,dieser Erfahrung, ist fast unhörbar. Darin sind sie den Toten ähnlich. Auch lächeln sie fast immer, weil sie fast immer weinen.

Glattzüngigkeit ist nicht die Sprache der Erfahrung, von der ich hier spreche. Aufgeregtheit auch nicht; auch Beleidigtsein nicht, — und — Auftrumpfen ist es auch nicht. Vor allem aber ist es den Beladenen nicht möglich, das Geheimnis, die Kostbarkeit ihrer Erfahrungen, die auf dem Boden dieser Lade ruhen — zu öffnen für Zwecke. Zwecke lösen Glück und Unglück aus. Darum, denke ich, muß man mit beidem vorsichtig, kostbar umgehen. Man darf sie nicht hinschleudern wie altes Wasser, das man noch mal gebrauchen will. Ich bitte um Verzeihung für den wenig unglücklichen, belehrenden Ton. Das sei mir bitte, als der Älteren heute verziehen. Ich bitte ausdrücklich darum! Aber Du weißt, daß ich weiß, wovon ich spreche. Denn ich schäme mich für alle Juden in der Welt, wenn Du im Angesicht der Hölle von Bagdad sagst: Ja, ich bleib bei meiner Meinung — auch —, wenn diese Hölle sich wiederholt. Ich sage Dir, daß die Juden nicht zu retten sein werden, wenn sie so denken. Denn dieses Denken sagt: „Nur ein toterIraker ist ein guter Iraker.“ Kommt Dir dieses Denken nicht weither bekannt vor? Haben wir — Du und ich — das nicht als Kinder erfahren? Und müssen wir nicht gegen uns schreien, wenn uns so ein Denken befällt? Ein Denken, das ja aus Ansteckung kommen könnte, und darum das Gefährliche ist.

Der Kuß der Lea Rosh für Dich, hat mir die Haut verbrannt. Weil er nicht eine Belohung für die Gerechtigkeit der israelischen Sache war, sondern die Belohnung für ein vollkommenes Recht, das ja das Unrecht einschließt. Du bist doch kein Stalinist. Für Dich kann doch nicht gelten, was Vaclav Havel sagt: „Der Haß ist dem Hassenden wichtiger als das Objekt desHasses.“ Sonst wäre ja immer, immer die Quelle Deiner Produktivität der Haß gewesen. Darüber denke ich nach, und darüber, denke ich, solltest Du auch nachdenken.

Welche Selbstverstümmelung Du Dir da selbst zufügst. Denk an unseren Lehrer Robert Havemann, den Du betrübst mit solchem Denken — bis auf den Grund der Seele. Denn was in der alten DDR irritiert, vor allem, ist die Maßlosigkeit Deines israelischen Anspruchs, jetzt, wo es die DDR nicht mehr gibt, der Antagonismus zerplatzt ist, und wir mit offenem Mund vor dem Fernseher sehen, wie Dein israelisches Maß in der Maßlosigkeit zerfällt. Ich sage nicht, daß die Juden bessere Menschen sein wollten, als der Rest der Welt; ich sage: wenn sie mitAtombomben, auch solchen, die aus dem Denken kommen, auch solchen, die aus Worten auf uns fallen, wie in dieser Talkshow, wenn sie der Sprache Saddam Husseins gleich sein wollen, dann werden sie das Mitleid aus der Welt jagen, das wir alle zum Überleben brauchen.

Wer wagt, wer kann wagen, den Toten im Bunker von Bagdad, dies trotzig jetzt zu versagen? Und den Schrecken? Und das Entsetzen? Den Schrei? Und die Scham, sich selbst jetzt versagen? Ich grüße Dich mit wenig, aber nicht ohne Hoffnung.

Am Morgen nach dem Tod der Kinder im Bunker von Bagdad

Käme doch zu mir

etwas Schönes

mit gewaltigen Flügeln

und trüge fort das Senkbeil

das Lot am Morgen

das mißt

wie tief es noch

bis zum Grund ist

wo das Dunkle

das Schöne ruht

das Leichte

das keine Flügel braucht.

Käthe Reichel