Hürdenlaufen für jüdische Emigranten

■ Die Beratungsstelle für jüdische Auswanderer ist formell nur umgezogen, faktisch aber gibt es sie nicht mehr

Berlin. Die Beratungsstelle für jüdische Emigranten aus der Sowjetunion in Ost-Berlin war berühmt bis weit hinter den Ural. Es lag nicht an der Adresse. Nur die wenigsten der Hilfesuchenden wußten, daß das Zimmer 4134 in dem düsteren Bau der Otto-Grotewohl-Straße bis 1945 ein Arbeitszimmer des Goebbelschen Propagandaministeriums gewesen war. Dort hatte seit vergangenem August das Büro der Ausländerbeauftragten beim Ministerrat der alten DDR-Regierung versucht, ein Stück Wiedergutmachung zu üben. Juden, die aus der UdSSR vor der antisemitischen Bedrohung nach Deutschland flohen, erhielten in der Otto-Grotewohl-Straße Hilfe, um in der DDR bleiben zu können.

Und an dieser Hilfe lag es, daß die Beratungsstelle berühmt wurde, daß die Neuankömmlinge oft von Berlin nicht viel mehr wußten als von freundlichen Menschen in der Nähe des Hauptbahnhofes, die dort arbeiten, die einem schon irgendwie ein Dach über den Kopf besorgen und einen Haufen Formulare ausfüllen würden. Und genau das haben Lutz Basse, Mathias Jahr und die Dolmetscherin Helga Schmidt monatelang getan — für mehr als 4.000 Menschen. Auch dann noch, als nach der deutschen Einigung am 3. Oktober die Juden aus der Sowjetunon nicht mehr das Recht auf einen ständigen Wohnsitz in der DDR hatten und keine Stadt außer Ost-Berlin die Emigranten aufnehmen wollte.

Das endgültige Aus für die Beratungsstelle war für Ende Dezember vorgesehen. Mit der Übernahme der bundesdeutschen Ausländergesetze schien auch das Schlupfloch Berlin versperrt, eine Sonderregelung für jüdische Emigranten aus der Sowjetunion war nicht in Sicht. Den am Hauptbahnhof trotzdem weiter ankommenden russischen Juden drohte das Schicksal von obdachlosen Touristen. In dieser unklaren Situation half Staatssekretär Armin Tschoepe von der Sozialverwaltung. Das Beratungsbüro sollte bis mindestens Ende Juni 1991 weiterbestehen, müßte aber in das Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben integriert und in das Aus- und Übersiedlerheim nach Marienfelde verlegt werden, verfügte der SPD-Politiker.

Seit dem 15. Januar ist die Beratungsstelle formell nur umgezogen, praktisch aber gibt es sie nicht mehr. Es liegt nicht an fehlenden Neuzuwanderern. Die kommen immer noch, seit Mitte Januar etwa täglich zehn. Es liegt an der Bürokratie. Das Beratungsbüro wurde eingebunden in einen gewaltigen Apparat, der schon mit ganz anderen Menschenströmen und Problemen fertiggeworden ist. Jetzt ist die ganze Hilfe dezentralisiert und wird mit Computern verwaltet. Aber die Effizienz kostet ihren Preis. Die individuelle Beratung ist unter den Tisch gefallen, die im Ostbüro geübte Einheit von Personenfeststellung, Information, Wohnraumvermittlung und Lebenshilfe aufgegeben. Lutz Basse und Mathias Jahr sind zu unselbständigen Sachbearbeitern von Einzelabteilungen degradiert worden. Ihr Arbeitsplatz ist die für Datenerfassung zuständige Abteilung VI A, für die Wohnraumvermittlung ist ein anderes Referat zuständig.

Der Apparat in Marienfelde funktioniert, ohne Zweifel. Kein Neuzuwanderer braucht zu befürchten, ohne Unterkunft in Berlin dazustehen — vorausgesetzt, er akzeptiert die Spielregeln. So verlieren etwa jene, die für mehr als drei Tage ihr Wohnheim verlassen, ihren Heimplatz. Beispiel Tanja A. Die ukrainische Übersetzerin wohnt mit ihrer kleinen Tochter in einem Hospitz in der Albrechtstraße. Für ein halbes Jahr bestand die Möglichkeit in eine leerstehende Privatwohnung umzuziehen. Das könne sie gerne machen, beschied ihr das Landessozialamt, das Risiko aber, nach diesem Intermezzo keinen Wohnheimplatz mehr zu bekommen, müßte sie eingehen. Tanja A. ist das Risiko nicht eingegangen.

All solche Fälle — und es sind Alltagsgeschichten — wären in der alten Beratungsstelle nicht zu Fällen geworden. Lutz Basse und Mathias Jahr hätten improvisiert und einen Ausweg gefunden. Ihre Arbeit, einst aus humanitär-politischen Gründen begonnen, ist kaputtrationalisiert worden. Damit wollten die beiden sich nicht abfinden. Sie haben jetzt gekündigt. Mathias Jahr wird der jüdischen Zentralwohlfahrtsstelle in der Oranienburger Straße bei der Eingliederung der Emigranten in Deutschland helfen, Lutz Basse geht als Sozialarbeiter zur Jüdischen Gemeinde nach Wiesbaden.

Aber auch die bürokratisierte Beratungsstelle in Marienfelde wird bald überflüssig werden. Seit dem 15. Februar dürfen Auswandereranträge nur noch in den deutschen Konsulaten in der Sowjetunion bearbeitet werden, die bereits hier lebenden Emigranten erhalten die unbeschränkte Aufenthaltserlaubnis. Sie haben jetzt das einklagbare Recht auf Eingliederungshilfen, von Sprachschulen bis hin zu Studienplätzen. Die alte, umfassende Beratungsarbeit wird bald von einem freien Träger, der »Regionalen Stelle für Ausländerfragen« fortgeführt werden. Eine Arbeitsstelle ausschließlich für die Betreuung und Beratung der jüdischen Emigranten finanziert die Freudenberg-Stiftung. Die Zusammenarbeit mit den jüdischen Institutionen der Stadt läuft. Anita Kugler