Chemieindustrie in Auflösung

■ IG Chemie schlägt Alarm: Jeder zweite Arbeitsplatz in Berlin-Brandenburg ist bedroht/ Die Westinvestoren fehlen — der Ostmarkt ist zusammengebrochen/ Elektrokohle Lichtenberg, Berlin-Chemie AG und Polymant sind betroffen

Berlin. Es war ein Rundumschlag — und keiner blieb verschont. Angesichts einer erwarteten Arbeitslosenrate von 50 Prozent in der chemischen Industrie übte gestern die IG Chemie vernichtende Kritik: Die Bundesregierung lege eine »menschenverachtende Distanz« zur Wirtschaftskrise in Ostdeutschland an den Tag; die Treuhand pflege in Sachen Privatisierung nach wie vor eine »Totschlagphilosophie«; westdeutsche Unternehmen, namentlich die Bayer AG, seien nicht bereit, Investitionsrisiken in den neuen Bundesländern einzugehen.

In einem detaillierten, zwölfseitigen Papier präsentierte die IG Chemie ihre Arbeitsmarktprognosen und wirtschaftlichen Forderungen — ohne allerdings auch nur einen Satz zur Problematik ökologischer Altlasten der Chemiebetriebe in der Ex- DDR zu verlieren.

Von den 320.000 Beschäftigten der chemischen Industrie in der Ex- DDR, so Jürgen Wingefeld, Bezirksleiter der IG-Chemie in Berlin-Brandenburg, sind 60.000 entlassen und 130.000 auf Kurzarbeit. In manchen Regionen, darunter auch Berlin- Brandenburg, sei jeder zweite Arbeitsplatz in den Branchen Chemie, Papier, Keramik, Kautschuk und Glas gefährdet. Bis Ende 1990 seien in Berlin-Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern zwischen 15 und 25 Prozent der Arbeitsplätze verloren gegangen. Am stärksten sind mit 25 Prozent die Papier- und die keramische Industrie betroffen. Die IG Chemie kann sich dabei aber nur auf Stichproben aus der Beschäftigtenerhebung berufen.

Besonders betroffen sind in Berlin die Berlin Chemie AG, die Polymant GmbH und Elektrokohle Lichtenberg. Dort kann Betriebsratsmitglied Peter Staudte den Countdown der Arbeitsplätze mittlerweile herunterrattern wie andere ihre Telefonnummer: »Im Juni 1990 waren es 2.607 Beschäftigte, im Dezember nur noch 1.767 — und von denen sind seit dem 1. Januar 1.062 auf Null Kurzarbeit gesetzt.« Die Gründe für den Niedergang des legendären Betriebs sind altbekannt. 75 Prozent der Produktion ging in alten Zeiten in die sozialistischen Bruderländer. »Und die«, sagt Staudte, »können nicht mehr zahlen.« Die westliche Konkurrenz produziert weitaus billiger. Alle Hoffnung der EKLer konzentriert sich nun auf die Verhandlungen mit einer Münchener Planungsgesellschaft, die in Lichtenberg einen Industrie- und Gewerbepark aufbauen will. Ein bißchen bleibt dann vielleicht auch von EKL übrig. »An die 500 Arbeitsplätze müßten wir halten können«, hofft Staudte.

Für 1991 und 1992 prognostiziert die IG Chemie einen Anstieg der Arbeitslosigkeit auf 30 bis 40 Prozent. Die statistische Trennung von Arbeitslosen und KurzarbeiterInnen will die Gewerkschaft nicht gelten lassen. Rechnet man beide zusammen, ergibt sich für Berlin-Brandenburg eine Zahl von 660.000 Menschen, die entweder auf Kurzarbeit gesetzt sind oder ihre Arbeit verloren haben. Diese Zahl drohe 1991 auf über eine Million anzuwachsen.

Ohne regionale Wirtschaftsförderung geht nach Auffassung der IG Chemie gar nichts. Die Berlinförderung dürfe erst nach sieben Jahren auslaufen, dann müsse Berlin in ein regionales Wirtschaftsförderungsprogramm integriert werden. Dringend benötigt würden außerdem lokale und regionale Qualifizierungsgesellschaften, und etwas mehr Initiative seitens des Senats und der Brandenburger Landesregierung. Bei beiden sei noch nichts von der »erforderliche Aufbruchstimmung« zu merken. Andrea Böhm