Auf halber Strecke verabschiedet

■ Jürgen Flimm inszeniert Shakespeares „Was ihr wollt“ am Hamburger Thalia-Theater

Schon in Köln hat Jürgen Flimm hinterlassen, was man eine Ära nennt. In Hamburg ist er seit sechs Jahren dabei, das zu tun, was dafür nötig ist. Er hat als Intendant des Thalia-Theaters vor allem ein solides Ensemble aufgebaut, und bald wurde diese zweite Staatsbühne Hamburgs die erste — ganz offiziös, als die Zeitschrift Theater heute das Thalia zum Theater des Jahres 1989 ausrief, oder auch heimlich, als im letzten Jahr Robert Wilson und Tom Waits mit ihrer Freischütz-Show für eine internationale Attraktion sorgten.

Nein, ein braves Stadttheater ist Hamburgs Thalia längst nicht mehr, und wenn der Hausherr selbst inszeniert, sind heute die Erwartungen hoch gespannt. Zu recht, denn Flimm traut sich auch mal, sein Publikum herauszufordern. Mit Woyzeck zum Beispiel: Eine ungewöhnlich konsequente Regie zeichnete Büchners Frauenmörder als deklassierten Intellektuellen und verhinderte die allzu geläufig gewordene Einfühlung in dieses angebliche Opfer der Gesellschaft. Eher gedämpft fiel denn auch der Beifall für solch bedrohliches Theater aus, das zugleich eine philologisch anspruchsvolle Rekonstruktion der Büchnerschen Textfragmente war. Publikum und Kritik waren sich auch hier einig — wie fast immer in Flimms Theater.

Man liebte ihn auch sogleich wieder sehr, je deutlicher sich die notorische Krise des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg zurückmeldete. Zur Zeit ist sie am üblichen Höhepunkt angelangt. Intendant Michael Bogdanov geht, aber noch wird Shakespeare am Schauspielhaus so oft gespielt wie nie zuvor. Ein elisabethanisches Zeitalter allerdings ist nicht ausgebrochen, Bogdanov ist Spezialist für Aktualisierungen, kam mit Hamlet im Militärstaat, danach mit Romeo und Julia im Hochglanzformat der Aufsteiger auf den Markt und schickte noch ein Gastspiel seiner Haustruppe „The English Shakespeare Company“ hinterher: Labour gegen Torys im Coriolan, englisches Kamingeplauder und irische Schafschur für das Wintermärchen. Soeben haben die Proben für Bogdanovs Sturm begonnen, und damit der letzte Akt eines wohl nicht mehr aufhaltbaren Abstiegs in der Gunst der Hamburger Kritik und der Hamburger Kulturbehörde.

Umso heller leuchtet daneben der Stern Jürgen Flimms. Auch er kann Shakespeare aufführen, er kann es ohne Krise, seine jüngste Inszenierung der Komödie Was ihr wollt spielt auf einer zeitlosen Insel der Lustigen, und als er sich nach der Premiere vor dem Publikum verneigte, da schlug ihm dafür die reine Dankbarkeit entgegen.

Das war also endlich Shakespeare — wie ihr wollt. Nämlich wir, nicht ihr draußen vor dem Theater, sondern wir drinnen und behutsam eingestimmt auf ein reines Vergnügen. Schon das Licht ist einer längeren Beschreibung wert, in unendlich feinen Nuancen zaubert es Morgen- und Abendstimmungen auf die Spielfläche, die ein kreisrunder Teller ist. Abgeschlossen also ist der Bezirk des Dramas, aber dennoch einsehbar und nah, weil die Fläche nach vorne geneigt ist und über das Bühnenportal hinausragt.

Eine Felsengrotte gibt hinten den Blick auf ein Meer frei, linker Hand hat Bühnenbildner Rolf Glittenberg einen weißleuchtenden Quader für den Palast des liebeskranken Fürsten Orsino hingestellt, in der Mitte windet sich ein schneckenförmiges Labyrinth in die Tiefe und ist folglich räumliches Zentrum für all die Verwicklungen um die Dame Olivia und die seltsamen Gestalten, die ihr Haus bevölkern: den saufenden Vetter Tobias Rülp, den hirnlosen Ritter Bleichnwang, den Nichtstuer Fabian, die dralle Zofe Marie, den eitlen Malvolio, um den es tragisch steht, und — Shakespeares höchstpersönliche Signatur — den Narren Feste. Flimm glaubt an sein Ensemble, das ihn liebt, und läßt diese Gesellschaft unbeschwert schwadronieren. Marianne Glittenberg entwarf dafür Kleider, die als elisabethanische wiedererkennbar sind, und so klingen auch die Madrigal-Kanons, die das Textbuch vorschreibt und prompt zu einem Höhepunkt der Aufführung werden. Olivias (und Flimms) Hausgeister steigern sich in einen musikalischen Gruppenrausch hinein, übertreiben das Prinzip allerdings bald mit einem schenkelklopfenden Lachgebrüll, das wieder nicht enden will.

Beharrliche Theaterarbeit zahlt sich aus, wenn ein Hans Kremer mit untrüglichem Gefühl für komische Wirkungen ein ganzes Repertoire an Schrittchen, Tänzchen und Gängen absolviert, um immer haarscharf der Suff-Klamotte auszuweichen. Wo aber bleibt Flimms Regie? Sie hat sich auf halber Strecke verabschiedet, so scheint es. Der Regisseur, der so sorgfältig mit Texten umgehen kann, überließ die Substanz dieses Stückes zwei Frauen, die nichts damit anfangen konnten. Annette Paulmann, gerade mit dem Boy-Gobert- Preis ausgezeichnet und unter Wilson gefeierte Darstellerin der Freischützbraut, spielt die Viola, die in den Kleidern ihres verschollenen Bruders in den Dienst des Fürsten tritt. Sie liebt ihn, er aber liebt jene Olivia, der Claudia Kaske anfangs zu Recht verhärmte Züge verleiht. Sie muß trauern und weiß nicht warum, wie sich alsbald zeigt. Denn sie verliebt sich in Viola und nun hört das Drama auf, ein fröhlicher Scherz mit Musik zu sein. Es kippt nicht bloß melancholisch um, wie so oft behauptet, es wird vielmehr zur grandiosen Diagnose der tatsächlichen Bisexualität jeder Liebe.

Nicht aber bei Flimm, und schon gar nicht bei Annette Paulmann. Sie ist gleichmäßig zickig und aufsässig, ob nun umworben von der Frau oder vom Mann. All diese verschwendete Erotik scheint sie nichts anzugehen, aber auch Claudia Kaske flüchtet sich nur in lautstarke Anfälle von Hysterie, wo ihr der Text Empfindungen des Glücks vorschriebe. Gewiß ist die Sehnsucht nach dem Jungen, der eine Frau ist, so unerfüllbar wie Orsinis homosexuelle Umarmungen seines vermeintlichen Dieners, aber so unverbindlich wie hier beides gespielt wird, mal tolpatschig, mal exaltiert, so harmlos ist es wohl nicht. Was sich gar auf dem Gesicht der Hosen-Viola abspielen müßte an sexueller Bestürzung, das dürfen wir uns denken — zu sehen ist nichts als Annette Paulmanns gelangweilte Schnute.

Aber selbst das Denken wird am Ende verboten. Eine Doppelhochzeit löst die erotische Verwirrung auf. Wissende würden sich bei Shakespeare der Konvention beugen und eine pragmatische Utopie auf der Insel Illyrien einrichten, eine Insel der Einsicht übrigens, die deswegen das Narrenvolk gut weiterbeschäftigen und auch noch den tragischen Malvolio beherbergen könnte. Flimm aber gießt alles vernebelnde Sphärenmusik aus den Lautsprechern und läßt das Ensemble in einer cineastischen Slow-Motion erstarren, dem exakten Gegenteil also jener Entspannung, die nun fällig wäre, hätten sich zuvor erotische Spannungen aufbauen können. Das ist nicht geschehen, und der Mangel rächt sich jetzt. Es gibt nichts mehr zu sagen. Hinten tollen die Narren noch ein wenig, vage ironisch mag Flimms Schlußbild vorne gemeint sein, fragt sich nur, was da getroffen werden soll: die pathetisch verlangsamte Ästhetik der Schnulze, oder der Umstand, daß heute Happy-Ends nur noch so akzeptabel, also gar nicht mehr ernsthaft denkbar sind? Wer weiß es schon — und will danach fragen — nach diesem Shakespeare schöner Bilder und deftiger Worte, die über den Bühnenrand hinaus nichts weiter bedeuten wollen. Das ist ein bißchen wenig, und natürlich nicht Stoff genug für eine Krise. Aber die will ja nun wirklich niemand, und schon gar nicht am Thalia.Niklaus Hablützel