Enteignung der Schwangerschaft durch Techno-Medizin

Pränatale Diagnostik als fragwürdige Routineuntersuchung/ Der genetische Check-up des Ungeborenen im Mutterleib ist für Schwangere ab 35 keine Ausnahme mehr/ Frauen treffen Entscheidung auf Basis von Klischeevorstellungen und einer Lebensphilosophie der Plan- und Machbarkeit  ■ Von Helga Lukoschat

„Mir schien es so vernünftig“, sagt die eine. „Es wurde doch von mir erwartet“, eine andere. „Ab 35 gehört das einfach dazu“, ist die Überzeugung der nächsten. Pränatale Diagnostik, der genetische Check-up des Ungeborenen im Mutterleib, ist von einer Ausnahmeuntersuchung zu einer Routineangelegenheit für schwangere Frauen über 35 Jahren geworden. Zu einer äußerst fragwürdigen Routine, wie der Report Gläserne Gebär-Mütter der Bremer Autorin Eva Schindele beeindruckend zeigt. Denn die weitreichende Entscheidung für eine Amniocentese oder eine Chorionbiopsie — beide Methoden dienen dazu, Zellmaterial zur Chromosomenanalyse des Fötus zu gewinnen — treffen Frauen in einem Gespinst aus diffusen Ängsten, ärztlichen und gesellschaftlichen Erwartungen. Unabhängig vom tatsächlichen Risiko, ein krankes Kind zur Welt zu bringen, und sehr häufig auf der Basis von Klischeevorstellungen über Behinderungen, muten sich die Frauen die psychische Ambivalenz und Belastung einer „Schwangerschaft auf Probe“ zu. Bei der Amniocentese, die 1989 nach Schätzungen rund 50.000 Frauen in Anspruch nahmen, verstreichen drei bis vier Wochen zwischen der Fruchtwasserentnahme in der 16. bis 18. Schwangerschaftswoche und den Ergebnissen aus den Labors. Die wesentlich seltener ausgeführte Chorionbiopsie, bei der vaginal Gewebe aus dem Chorion, dem kindlichen Anteil der späteren Plazenta abgesaugt wird, kann bereits in der 11./12. Schwangerschaftswoche durchgeführt werden. Der Befund ist nach wenigen Tagen erhältlich. Allerdings gilt die Chorionbiopsie als unsichere und riskantere Methode als die Fruchtwasserentnahme.

Was macht Frauen so anfällig für die Versprechungen der Pränataldiagnostik? Eva Schindele beschreibt eindringlich und überzeugend eine Entwicklung, die sie als „Enteignung der Schwangerschaft“ bezeichnet. Schwangerschaft wird danach zunehmend von einer medizinisch- technischen Sichtweise beherrscht, wird zur Sache der Experten. Und das heißt: Immer weniger Frauen vertrauen auf die Kräfte ihres Körpers, ihre Intuition, ihre leiblichen Potenzen. Die pränatale Diagnostik nimmt dabei eine zentrale Stellung ein: Sie verspricht Sicherheit, Kontrolle, Beruhigung. Pränatale Diagnosemethoden funktionieren wie „Placebos gegen Klischees“. Placebos, weil die diagnostischen Möglichkeiten der Amniocentense tatsächlich äußerst beschränkt sind. Etwa drei Prozent aller Neugeborenen kommen mit angeborenen Schädigungen zur Welt, nur 0,1 bis 0,5 Prozent können jedoch mit den heutigen Untersuchungsmethoden überhaupt erkannt werden.

Eva Schindele zeigt sehr deutlich, daß Amniocentese und Chorionbiopsie vorrangig der Trisomie 21 gelten. Diese Chromosomenanomalie ruft bei Kindern das „Down-Syndrom“ hervor, in der Öffentlichkeit noch immer unter dem Begriff „Mongolismus“ bekannt. Obwohl sich in den letzten Jahren dank des Engagements von Eltern und Behindertengruppen zeigte, welche Entwicklungsmöglichkeiten diese Kinder haben und sie keineswegs ein Leben in „Leid und Unglück“ verbringen müssen, halten sich die Klischees hartnäckig. Es fehlt an persönlichen Erfahrungen und Kontakten, da bleiben die vorgefaßten Urteile aus den „Gaffsituationen“ fest im Kopf.

Kommt vom Frauenarzt der Anruf, „mit ihrem Kind ist etwas nicht in Ordnung“, entscheiden sich so nahezu 100 Prozent der betroffenen Frauen für eine Abtreibung. Nach Schätzungen der Autorin dürften dies in den vergangenen 15 bis 20 Jahren 20.000 Frauen gewesen sein. Aber über den Abbruch nach der sogenannten eugenischen Indikation herrscht Schweigen, „eine Mauer aus Schuld und Scham“. Mit den Gesprächsprotokollen, die Eva Schindele in ihrem Buch veröffentlicht, kommen meines Wissens zum ersten Mal betroffene Frauen selbst zu Wort. Es ist der Autorin zu danken, mit welcher Einfühlung und persönlichem Einsatz sie diese Gespräche führte und die Leserin dabei begleitet. Denn was die Frauen zu erzählen haben, wie die 44jährige Psychotherapeutin Hannah, die ihr Kind nach Feststellung einer Chromosomenanomalie abtrieb, sind einsame und schwer erträgliche Geschichten von Schuldgefühlen, Schmerz und Trauer. Anders als bei dem Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft, trennen sich Frauen hier von einem möglicherweise langersehnten Wunschkind. Mit der erschreckenden Erfahrung, „selektiert“ zu haben, bleiben die Frauen allein. Dazu kommt die physische Anstrengung eines späten Schwangerschaftsabbruchs. Mit Hilfe von Prostaglandinen müssen die Frauen eine künstliche Geburt durchstehen, die mit einer Abtreibung in den frühen Wochen nicht mehr zu vergleichen ist.

Durch kein Gesetz werden Frauen dazu verpflichtet, die Techniken der pränatalen Diagnostik in Anspruch zu nehmen oder ein möglicherweise behindertes Kind abzutreiben. Woher also kommt dieser Automatismus? Staatliche Zwangsmaßnahmen, so Eva Schindeles Einschätzung, sind dazu längst nicht mehr nötig. Selbstverständlich weiß die Autorin um die Analyse aus der Behindertenbewegung an der eugenischen Ausrichtung der humangenetischen Beratungsstellen, den Vorreitern der Entwicklung. Nachweisbar gab es hier personelle Kontiunitäten zu nationalsozialistischen „Rassehygienikern“, deren Ziel die Vermeidung und Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ war. Aber die heutigen Neoeugeniker haben die martialische Sprache ihrer Vorgänger längst aufgegeben, soft und sensibel versprechen sie: Die Belastung durch ein behindertes Kind — das muß heute doch nicht mehr sein. Und treffen damit gerade bei der Frauengeneration auf Resonanz, die sich ein Stück eigenes Leben, berufliche Selbständigkeit und Unabhängigkeit erkämpft hat. Emanzipierte Frauen als die Wegbereiterinnen einer behindertenfeindliche Eugenik? Eva Schindele stellt die Frauen nicht an den Pranger, sie verweist auf die vielfältigen Anforderungen, die mit dem Großziehen eines behinderten Kindes verbunden sein und die Frauen individuell überfordern können.

Eva Schindele vermeidet den objektivistischen Jargon linker KritikerInnen staatlicher Bevölkerungspolitik. Ihre Kritik speist sich aus einer Quelle, die unter linken Kreisen durchaus verpönt ist, weil sie letztlich auf einer spirituellen Basis beruht. Die Zustimmung zur Pränataldiagnostik, so Eva Schindele, beruhe auf einer funktionalistischen Lebensphilosophie der Plan- und Machbarkeit, in der Krankheit oder Tod keinen Platz haben. Obwohl ganzheitliches „ökologisches“ Denken in aller Munde ist, wird die Zusammengehörigkeit von „Hell und Dunkel“ ausgeblendet, der Wunschvorstellung einer perfekten, immer herstellbaren Gesundheit nachgehangen. Das Buch der Bremer Autorin ist so zugleich ein wichtiger Beitrag zur feministischen Selbstverständigung über den Begriff der Selbstbestimmung.

Eindrucksvoll wird dies in den Gesprächen mit den Frauen deutlich, die sich bewußt gegen die pränatale Diagnostik entschieden haben. Sie waren alle durch die Erfahrungen von Krankheit oder dem Tod eines nahestehenden, geliebten Menschen geprägt. Die Einsicht, daß es kein „Leben ohne Leid“ gibt, machte sie widerständiger gegen die Versprechungen der neuen Medizintechniken. Wichtiger als das Bedürfnis nach „Sicherheit“ war ihnen der Wunsch, ein Kind annehmen zu können — so wie es ist.

Eva Schindele, Gläserne Gebär- Mütter , Fischer Taschenbuch, 1990