Schleppende Aufarbeitung der Regierungskriminalität

Die Berliner Arbeitsgruppe zur Verfolgung von Straftaten der ehemaligen DDR-Regierung ist hoffnungslos überlastet/ Bislang kein Zeitplan für die Anklage der alten SED-Führung/ Stasi-Chef Mielke schützt schlechter Gesundheitszustand vor dem Prozeß  ■ Aus Berlin Wolfgang Gast

Wie der Begriff „Regierungskriminalität“ entstanden ist, weiß der Leitende Oberstaatsanwalt Christoph Schaefgen beim Berliner Kammergericht nicht mehr. Aber was damit gemeint ist, kann der Leiter der gleichnanmigen Arbeitsgruppe genau beschreiben: Straftaten, die von den ehemaligen Machthabern und Repräsentanten der DDR in ihren Funktionen verübt wurden. Und so liest sich auch die Liste derjenigen, die bei der Arbeitsgruppe als Beschuldigte geführt werden, wie das Who is Who des früheren SED-Staates. Ermittelt wird beispielsweise gegen den ehemaligen Staats- und Parteichef Erich Honecker, gegen das frühere Politibüro-Mitglied Hermann Axen, den Armeegeneral und Stasi-Minister Erich Mielke und gegen den schillerndsten aller DDR- Funktionäre, den Ex-Chef-Devisenbeschaffer und MfS-Offizier im besonderen Einsatz, Alexander Schalck-Golodkowski.

Zwischen 250 und 300 Ermittlungsverfahren laufen derzeit bei der „Arbeitsgruppe Regierungskriminalität“, die aus fünf Staats- und Oberstaatsanwälten, einem Wirtschaftsreferenten und dem Gruppenleiter besteht. Die Ermittlungen wurden von der Gruppe entweder selber eingeleitet oder nach dem 3. Oktober von der früheren DDR-Staatsanwaltschaft übernommen. Die Zahlen sind allerdings nicht sehr aussagekräftig, betont der knapp über fünfzig Jahre alte Schaefgen: Hinter jedem der Aktenzeichen könne sich genauso ein Vorgang mit über 100 Leitzordnern verbergen, wie auch ein Verfahren, indem gerade einmal ein Schnellhefter angelegt wurde.

Im großen und ganzen lassen sich die Ermittlungen der Spezialtruppe in drei Komplexe aufteilen. Den größten Anteil bilden Verfahren im Zusammenhang mit den Todesschüssen an den Grenzenanlagen der früheren DDR und an der Berliner Mauer wie auch die kriminellen Machenschaften der früheren Staatssicherheit. Der zweite große Bereich firmiert unter dem Namen „Vergeudung von Staatsmittel“, womit etwa die Übertragung von Ferienhäusern beispielsweise an die Mitglieder des Politbüros oder die millionenschweren Zahlungen zur „Sonderversorgung“ der Bonzensiedlung Wandlitz gemeint sind. Der letzte große Komplex, den die Staatsanwälte ermitteln wollen, ist nur einer Person und Institution gewidmet: Den dubiosen (Waffen-) Geschäften des Außenhandelschefs im „Bereich Kommerzielle Koordinierung“ Schalck-Golodkowski.

Mit ihren wenigen Mitarbeitern ist die Arbeitsgruppe hoffnungslos überlastet. Allein die Akten, die ihr von der Generalstaatsanwaltschaft der DDR mit dem Stichtag Deutsche Einheit übergeben wurden, füllen die Stahlregale in zwei großen Zimmern. Personelle Unterstützung wurde zwar von der Berliner Justizsenatorin Limbach beantragt und im Dezember von der Läderkonferenz der Justizminister zugesichert — aber zwischen Absichtserklärungen und Realität klaffen Welten.

Vereinbart war, daß jedes der Altländer mindestens einen Staatsanwalt an die Spree abkommandiert, aber nur einer aus Bayern will in diesen Tagen nach Berlin kommen. Trotz Hauptstadt und möglichem Regierungssitz scheint Berlin den Staatsanwälten in Westdeutschland kein attraktiver Ort. Neben dem Bayern haben sich noch nicht einmal 10 Juristen für diese Stellen beworben. Das wird sich vielleicht ändern, wenn — wie in den Bonner Koalitionsvereinbarungen festgelegt — anstelle der Arbeitsgruppe eine zentrale Ermittlungsbehörde mit Sitz in Berlin eingerichtet wird. Eine Idee, die auch Schaefgen gut findet.

Einen Zeitplan, wann die Greise aus der alten SED-Führung vor Gericht angeklagt werden sollen, können die Staatsanwälte wegen der Arbeitsüberlastung nicht vorlegen. Bei Erich Honecker kommt hinzu, daß er für die Staatsanwaltschaft vorerst gar nicht greifbar ist. Ihm wird unter anderem die Verantwortung für die Todesschüsse, die Minengürtel und die Selbstschußanlagen an der deutsch- deutschen Grenze zur Last gelegt. Da er sich aber im Südosten Berlins in einer Kaserne auf sowjetischem Terretorium befindet, kann er de facto nur mit dem Einverständnis der Sowjets angeklagt werden.

Das Interesse der Ermittler konzentriert sich zur Zeit auf den früheren Stasi-Minister Erich Mielke. Dem 83jährigen Chef der Staatssicherheit, der seit dem 3. Oktober im Westen Berlins in Untersuchungshaft sitzt, will die Justizbehörde wegen der privilegierten Versorgung der SED-Prominenz in Wandlitz, der illegalen Überwachung des Post- und Telefonverkehrs und der Anstiftung zur Rechtsbeugung im Zusammenhang mit den Kommunalwahlen 1989 in der DDR in Kürze den Prozeß machen. Wesentlich schwerwiegendere Vorwürfe — etwa der, daß Mielke die Liquidierung prominenter „Republikflüchtlinge“ im Ausland zu verantworten habe — werden in der Anklageschrift kaum zu finden sein. Die Ermittlungen sind langwierig, ziehen sich hin, und wegen Mielkes schlechtem Gesundheitszustand läuft den Staatsanwälten die Zeit davon.

Auch ob der frühere DDR-Devisenraffer Schalck-Golodkowski jemals vor den Richter treten muß, ist fraglich. Zu tief scheinen westliche Politiker und Industrielle in den Sumpf um Schalcks Außenhandelsimperium „KoKo“ vertsrickt, als daß der BND seine Erkenntnisse an die Berliner Behörde weitergeben würde. Nach seiner „Flucht“ in die Bundesrepublik hat der passionierte Kunstsammler aus der DDR willig dem Pullacher Nachrichtendienst wochenlang umfassend Rede und Antwort gestanden. Der Stand der Ermittlungen bei der Berliner Justizbehörde rechtfertige, wie Arbeitsgruppenleiter Schaefgen betont, „einen Haftbefehl derzeit aber nicht“.