Fahnenflucht der schwarzen Männer

■ Die Welle des Patriotismus hat Chicagos schwarze Gemeinde noch nicht erreicht

Chicago (taz) — „Ich werde heute nicht über den Golfkrieg reden“, ruft der Prediger in die versammelte Menge. Der Chor aus der Baptistenkirche akzentuiert seine dahingeschleuderten Sätze mit rhythmischem Klatschen und anfeuernden Zwischenrufen. „Unser Krieg hat nicht erst am 16. Januar begonnen / Yeah / Unser Krieg gegen Drogen und Obdachlosigkeit tobt schon seit Jahren / That's right / Unser Problem ist der afroamerikanische Mann / Hear, hear / Unsere Kirchen sind von den Frauen überbevölkert / Yes, that's right / Es sind die Frauen, die unsere Familien führen, / Your'e right there / während unsere jungen Männer in 100-Dollar-Turnschuhen, aber ohne Gehirn auf der Straße mit Drogen handeln / Yes, Lord / Alle unsere Probleme führen auf eines zurück: / Hear, hear / Unsere Männer sind fahnenflüchtig, nicht am Golf, sondern in unseren Gemeinden. / Yes Lord, Amen.

Sonntag morgen, Bürgertreffen von „Operation PUSH“, dem Nucleus der Regenbogenkoalition des demokratischen Präsidentschaftsbewerbers Jesse Jackson. Rund 400 Leute, darunter vielleicht zwei Dutzend Weiße, haben sich im Hauptquartier von PUSH (People United to Save Humanity) an der East 50th Street eingefunden, dem dorischen Tempel, der früher einmal Chicagos erster jüdischen Gemeinde als Heimstätte diente. Die Anwohner sind gekommen, um das Neueste über die Kampagne zur Bürgermeisterschaftsvorwahl in der nächsten Woche mitzubekommen; und um die in finanzielle Schwierigkeiten geratene „Operation PUSH“ zu unterstützen.

Hier auf der South side, wo George Bush bei der letzten Präsidentschaftswahl ganze vier Prozent der Stimmen bekam, haben die Einwohner andere Probleme als die weißen Bürger Chicagos in den liberalen Seefront-Distrikten oder den Vorstädten. Während das weiße Amerika den Krieg an der Heimatfront mit gelben Rosetten, rot-weiß-blauen Schaufensterauslagen und „Support-Our-Troops“-Schildern am Straßenrand begleitet, ist in der Nähe der 50. Straße kein einziges jener patriotischen Symbole zu entdecken.

Amerikas Patriotismus war immer schon eine Verlängerung jenes missionarischen Drangs, ohne den die Kultivierung des Kontinents wohl unmöglich gewesen wäre. Daß Afroamerikaner, die zur Ausführung dieser zivilisatorischen Leistung damals zwangsverpflichtet — versklavt — wurden, daß sie also auch heute noch ihre Schwierigkeiten mit dem nationalen Sendungsbewußtsein haben, ist da kein Wunder. Den Meinungsumfragen zufolge unterstützt nur die Hälfte aller Schwarzen den Golfkrieg des George Bush. „Von denen“, so erklärt einer der Mitglieder von „Operation PUSH“, „habe ich allerdings noch keinen getroffen.“

„Als US-Bürgerin habe ich Schwierigkeiten, an die Bedrohung der Welt durch dieses kleine Land am Golf zu glauben“, beschreibt Shannon Williams, Buchhalterin bei einer Versicherungsfirma, ihre Haltung gegen den Golfkrieg. „Als Schwarze glaube ich, daß sich unsere Söhne nur aus ökonomischer Notwendigkeit, nicht aus patriotischen Gefühlen heraus zum Militär gemeldet haben; und als Frau denke ich, daß wir schon genug Probleme mit unseren schwarzen Männern haben; auch ohne sie in den Krieg zu schicken.“

Trotz des anfänglichen Versprechens schleicht sich der Krieg immer wieder in die verschiedenen Redebeiträge, nicht als nationales, sondern als lokales Phänomen. Da hat der lokale Kongreßabgeordnete ein Gesetz zur Verbesserung der Situation der Soldatenfamilien eingebracht, das es zu unterstützen gilt. Da muß „Operation PUSH“ die Angehörigen der Golfkrieger daran erinnern, daß letztere bei der kommenden Bürgermeisterschaftswahl ihre Stimme für den schwarzen Kandidaten abgeben, wenn nötig auch per Wüstenfax. Da berichtet ein anderer Redner von Fällen, in denen das Pentagon beide den Streitkräften angehörenden Elternteile an den Golf geschickt hat und die Kinder in Pflege gegeben werden mußten.

Insgesamt, so berichtet die 'Chicago Sun‘ vom gleichen Tag, läßt Uncle Sam am Persischen Golf 1.200 Elternpaare mit durchschnittlich zwei Kindern für sich kämpfen. Heute sind es nicht mehr wie in Vietnam eingezogene Teenager-Soldaten, sondern zu 60 Prozent verheiratete Familienvorstände, die den Krieg ausfechten.

Am Ende des Bürgertreffs, als der Baptistenchor zum Abschiedsgospel ansetzt, kann sich selbst der bereits zitierte Prediger eine Bemerkung zum Golfkrieg nicht mehr verkneifen. „Natürlich unterstützen wir unsere Truppen“, ruft er, „vor allem dann, wenn sie wieder unsere Choruniformen tragen.“ Rolf Paasch