»Ich will keine Caritas-Tante«

■ Der Fotograf Jürgen Baldiga ist seit 1983 HIV-positiv/ Aids war damals das Gerücht vom mysteriösen »Schwulenkrebs«/ Erst fiel Baldiga tief, dann brachte ihn die Fotografie zurück ins Leben

Auf dem kitschigen, kleinen Holztäfelchen, das an der Wand in Jürgen Baldigas Küche hängt, steht ein Spruch, umkränzt von Edelweiß- Plastik: »Alle Wünsche werden klein gegen den, gesund zu sein«. Makabere Ironie: Seit sieben Jahren weiß Jürgen, daß er HIV-Positiv ist, seit Ende 89 im »letzten Stadium«, wie er selbst sagt.

Im November 83 hatte er, »nur mal so«, den Test gemacht. Das Ergebnis kommentierte der Arzt mit der Feststellung, Jürgen habe wohl noch ein oder zwei Jahre zu leben. »Nach dieser Nachricht bin ich in ein großes, tiefes Loch gefallen«, erinnert sich der heute 31jährige, »ein halbes Jahr herrschte bei mir absolute Funkstille.« Bei wem er sich angesteckt hat, wird er nie erfahren.

Anfang der Achtziger kam Jürgen nach Berlin, geflüchtet vor der Diskriminierung und dem Unverständnis in seiner Heimatstadt Essen: Nach seinem coming-out hatten die Nachbarn Müll vor seine Wohnung geschüttet und ihn auf der Straße angepöbelt. Er war 19, Safer Sex war ein Fremdwort, und in Berlin konnt er endlich ein freies, schwules Leben führen. »Du konntest dich gehenlassen und alles ausprobieren, es gab keine Einschränkungen.« Aids war nicht viel mehr als das Gerücht vom mysteriösen »Schwulenkrebs«.

»Zuerst faßte mich keiner mehr an«

Nach dem Test war das vorbei: »Die Leute hatten Panik, sich anzustecken. Zu Anfang hat ich erstmal keiner mehr angefaßt.« Und an die Stelle von sorgloser Leidenschaft trat das Aufpassen: »Du hast die Krankheit immer im Kopf.« Und noch etwas veränderte Jürgens Leben: Er bekam ein Buch mit Bildern der amerikanischen Fotografin Diane Arbus in die Hand. »Diese Fotos haben sich wie ein Stempel in meinen Kopf gedrückt.« Mit einer billigen Spiegelreflexkamera zog er durch Berlin und knipste, was ihm vor die Linse kam. Er hatte sein Medium entdeckt. Seinen Lebensunterhalt verdiente der gelernte Koch mit Kneipenjobs, die restliche Zeit verbrachte er hinter der Kamera und in der Dunkelkammer. Dabei entstanden etliche faszinierende Bilder, teils beklemmende Momentaufnahmen von Menschen auf der Straße, teils technisch ausgefeilte Studioporträts. Ein ehemaliger Freund hatte in dieser Zeit einen kleinen Verlag »Vis-à-Vis« gegründet und Jürgen einen Vertrag angeboten. Im Frühjahr 1986 erschien Bambule, das erste Baldiga-Buch. »In meinen Fotos kann ich mich ausdrücken, da kann ich ein Stück von mir rüberbringen«, formulierte er seinen Antrieb, »das gibt mir Kraft«.

Die Fotografie und ein Leben mit viel Erholung und ausgewogener Ernährung ließen so die Bedrohung in den Hintergrund rücken, selten nur machte sich die Krankheit bemerkbar. Nur die regelmäßige Generaluntersuchung des Immunsystems und die zahlreichen Medikamente erinnerten Jürgen immer an die Infektion. Er stieg wieder aktiver in die Szene ein, die Leute gingen langsam offener mit der HIV-Gefahr um, Safer Sex und Aufklärung sorgten für einen relativ entspannten Umgang untereinander.

»Mit dem Sex ist es nicht vorbei«

Sexualität war trotz der Krankheit kein Tabuthema: »Es ist doch totaler Blödsinn, daß viele Leute denken, wenn du positiv bist, ist es vorbei mit dem Sex! Die Kondome sind so ein guter Schutz, und wenn mein Partner akzeptiert, daß ich positiv bin, kann das doch trotzdem wunderbar sein.«

»Tunten haben einen wunderbaren Humor«

Jürgens Leben normalisierte sich, 1987 und 88 erscheinen zwei weitere Fotobände, Jünglinge und Tunten. Das Tunten-Buch hat dabei für ihn besondere Bedeutung: »Tunten sind einfach meine liebsten Motive, weil die meisten von ihnen hervorragend mit ihrem Leben und auch mit Aids umgehen. Die stellen irre viele gute Sachen auf die Beine, zum Beispiel den HIV-Verein, das SchwuZ und viele andere Aktionen. Und sie haben einen wunderbaren Humor!« Den Außenseitern der Außenseiter, die auch von vielen Schwulen nicht akzeptiert werden, hat er mit seinem Buch ein Denkmal gesetzt. Und es ist ein Stück der »Suche nach der realen Schönheit«, wie Jürgen Baldiga sein Leitmotiv beschreibt. Während dieser Jahre war die Krankheit zwar unterschwellig immer präsent, auch hatte Jürgen schon zwei Freunde bis zu ihrem Tod begleitet. »Aber bei mir passierte nichts, ich hatte immer damit gerechnet, daß es losgeht. Aber alles ging normal weiter.« Er wurde leichtsinnig, mißachtete die gesundheitlichen »Spielregeln«: »Ich habe einfach nicht mehr auf die Signale meines Körpers geachtet und mich irgendwie gegen Einschränkungen gewehrt. Statt mich zu erholen, war ich sehr oft unterwegs und habe zu viel Streß gemacht.« Und dann, im Dezember 1989, erwischte es ihn: PCP, die HIV-Lungenentzündung, klares Zeichen für das »dritte Stadium« der Aids-Erkrankung. Sein Immunsystem war »total im Keller« , einige Wochen verbrachte Jürgen in der Aids-Station des Auguste-Viktoria-Krankenhauses.

»Ich habe nicht mehr auf die Signale meines Körpers gehört«

Danach lag er lange Zeit zu Hause, unterstützt von Freunden, seiner Freundin und Wohnpartnerin Barbara und mit Bergen von Medikamenten. »Von einigen Leuten habe ich mich allerdings total verarscht gefühlt. Die kamen zu mir wie in den Zoo und haben dann irgendwelche blöden Tips gegeben. Während ich über die richtige AZT-Dosis nachgedacht habe, haben die gesagt, ich soll mir jeden Morgen einen Apfel reiben.«

»Der Tod ist ein ganzes Stück nähergerückt«

Seit dem Zusammenbruch ist der Tod ein ganzes Stück nähergerückt, »die Krankheit nimmt mindestens 90 Prozent meines Lebens ein«. Jürgen hat aufgehört zu arbeiten, den Vertrag mit dem Verlag gekündigt und lebt jetzt nur noch nach seinen Bedürfnissen: »Es kann ja nächste Woche schon vorbei sein«, sagt er, »da habe ich keine Zeit mehr für Sachen, auf die ich keine Lust habe.«

Er ist als schwerbehindert anerkannt, auch die bescheidene Rente ist gesichert. Aber ein Grund zum Resignieren ist das noch lange nicht: »Es gibt noch so viel zu tun. Ich habe Angst, etwas zu versäumen. Ich merke zwar, daß ich nicht mehr wie ein junges Reh durch die Heide hüpfe, aber wenn ich mich fit fühle, lasse ich mir nichts verbieten.« Er fotografiert viel, die Auseinandersetzung mit dem Tod ist einigen Bildern deutlich anzusehen. Auch mischt er wieder im schwulen Nachtleben mit, engagiert sich bei »Act-up« gegen die Diskriminierung von Schwulen und HIV-Positiven, organisiert Veranstaltungen für die Aids-Patienten im Auguste-Viktoria-Krankenhaus und kocht für kranke Freunde.

Und er will auch mit seiner Geschichte dazu beitragen, daß Menschen sich mehr Gedanken über das Leben von HIV-Positiven machen und ihre Vorurteile abbauen. Dafür arbeitet er mit zwei Jungfilmern an Dokumentarfilmen über sich und über die Krankheit. »Wenn du Akzeptanz bei den Leuten erreichen willst, mußt du sie damit konfrontieren. Es regt mich auf, daß sich viele Positive völlig isolieren und verstecken, statt am Leben teilzunehmen.« Manchmal jedoch überfordert auch ihn die Ausweglosigkeit, dann zieht er sich mit Depressionen zurück und wartet, »bis die schwarzen Hunde wieder weg sind«. Gerade, »wenn mal wieder ein Freund gestorben ist«, dauert es eine Zeit, bis er weitermacht.

»Am Schluß will ich keine Gummihandschuhe«

Noch unternimmt Jürgen so viel wie möglich. »Aber irgendwann ist die Party zu Ende. Dann kommt der Zeitpunkt zum Gehen. Wenn es soweit ist, will ich zu Hause sterben, nicht im Krankenhaus, an irgendwelchen Apparaten.« Beim schwulen Pflegeverein »HIV e.V.« wird er als Patient geführt: »Ich habe ein schwules Leben geführt, das will ich auch schwul zu Ende führen. Ich will am Schluß nicht von einer Caritas-Tante mit Gummihandschuhen umsorgt werden, sondern von einem schwulen Pfleger, der mich verstehen kann!«

Diese Gedanken, sachlich und ausweglos, passen so gar nicht zu der fröhlichen Lebendigkeit, mit der Jürgen von seinem Leben erzählt, und davon, daß er mit seinen Fotos und den Filmprojekten etwas machen will, was auch nach seinem Tod bestehen bleibt: »Wenn ich Glück habe, mach' ich noch ein Jahr, und dann will ich wenigstens ein paar Kratzer an der Wand hinterlassen.« Lars v. Törne

Ausstellungen mit Fotos von Jürgen Baldiga: Bis Mitte April im AHA, Mehringdamm 61; 1. bis 31. März, Positiv Art , Galerie Bellevue, Flensburger Straße 13; Juni 91: Mann-O-Meter, Motzstraße.