Schwarzer Honig in der Seele

■ Graham Parker live and alone im Quartier

Brauchste wat? Pillen?« fragt der Dealer höflich beim Ausstieg am U-Bahnhof Kurfürstenstraße. »Nein danke, kein Bedarf, wir wollen zu Graham Parker.« »Wer issen ditte?«

Gedächtnisschwund scheint nicht nur Kohlen- und Kokshändler in dieser Stadt zu befallen, auch Musikfans scheinen irgendwann ihre Helden von einst vergessen zu haben. Sonst wäre das Konzert von Graham Parker im Quartier wohl ausverkauft gewesen.

Eine relativ kleine Schar hartgesottener Anhänger tummelte sich im freigeräumten Saal (endlich mal ohne Tisch und -telefon), viele schon angegraut, kaum jemand unter der magischen Schallgrenze von dreißig Jahren. Das sollten nun also die Leute sein, die Ende der Siebziger nicht aus Opportunismus zum Punk überliefen (oder später feige behaupteten, sie hätten Punk ja doch irgendwie gut gefunden), sondern die weiterhin auf die Rock‘n‘Roll-Option setzten mit Ian Dury and the Blockheads oder eben jenem Graham Parker and the Rumor (wie seine Gruppe damals hieß).

Richtig reich werden ließ es sich mit diesem doch relativ begrenzten Publikumspotential nie. Und so wäre auch Graham Parker schon fast in die ewigen Rockjagdgründe eingezogen, als einer mehr, der die besseren Songs, aber das schlechtere Einkommen hatte. Wenn nicht vor zwei Jahren diese großartige Platte von ihm erschienen wäre: Live! Alone in America. Parker solo, nur mit seiner Gitarre und dieser Stimme, die auch dem härtesten Herzen eine Träne entreißt und ihm räuspernd zuflüstert: Du bist nicht allein allein auf dieser bösen, bösen Welt.

Und nun also die Tournee zur (alten) Platte, geschäftstechnisch eigentlich viel zu spät und doch wieder ein paar Tage zu früh, denn wie Parker im Konzert selber vermerkt: »Ich war heute im Plattenladen in Berlin, meine neue Scheibe Struck by Lightning ist leider noch nicht da. In Belgien soll es sie schon geben, hat sie hier schon jemand gehört?« Als sich zwei bis drei Gestalten in den vorderen Publikumsreihen melden: »Ach, ihr seid doch sowieso alle nur von der Presse.« Der Rockpoet als tragische Gestalt.

Als er dann endlich einfach lossingt, wirklich völlig allein auf der großen Bühne, meint man zunächst, jetzt würde alles doch noch gut. Er hängt sich die Mundharmonika um, greift kraftvoll in die Saiten seiner akustischen Gitarre, trinkt immer mal aus den zwei großen Plasikbechern neben sich und singt sehr schön traurig. Alles geht extrem langsam und vorsichtig voran. Nur keinen zu schnellen Rhythmus anschlagen, nur nicht rausbringen lassen aus dem bluesigen Balladenreigen, der einen Mann Alone! livehaftig werden läßt. Dabei nimmt er zwischendurch sogar mal die elektrische Gitarre in den Arm, wird richtig ruppig und das blaue Äderchen auf seiner rechten Stirnhälfte schwillt noch ein bißchen mehr an. Parker kommt sogar fast ins Schwitzen unter seiner schwarzen Lederweste und der gleichfarbigen Sonnenbrille als er Get started — start a fire aus seinen verräucherten Stimmbändern hervorpreßt. »And I wanted to be, what I wanted to be — when I was king.« Wann war das noch mal?

Sein kurzangebundener britischer Dunkelhumor läßt ihn Sweet Sixteen als Billy-Idol-Song ankündigen, »aber kann der überhaupt Stücke schreiben?« Neben uns taucht eine euphorisierte Frau mit vielleicht sechsjährigem Kind auf den Schultern auf, das den vor ihm plazierten Leuten mit einem Holzlöffel auf den Kopf schlägt und dabei freudestrahlend kreischt. Parker, hinter seiner Sonnenbrille verschanzt, scheint von alldem, obwohl es zwei Meter vor ihm geschieht, wenig oder nichts mitzukriegen. Er beherrscht eine distanzierte Haltung, die ihm das Publikum mehr oder weniger vom Hals hält. Als wollte er sagen: Hier habt ihr meine Songs, meine Seele kriegt ihr nicht. Jeder schwelgt vor sich hin und wartet still auf seine Lieblingssongs, Parker aber erfüllt auch diese Wünsche nur begrenzt. Er spielt White Honey, aber nicht das schönere, weil traurigere Black Honey (is in my soul). Und auch Soul Corruption über die scheinheiligen Seelenverkäufer aus dem Washingtoner Weißen Haus kommt genau heute nicht.

Aber auf solche dummen Wünsche und Fragen hat Graham Parker immer eine letzte Antwort parat: »Hey Lord — don‘t ask me questions!« Dem Mann helfen höchstens noch die Damen mit den beheizten Wohnmobilen, die sich draußen an der Potse die langen Beine abfrieren. Andreas Becker