Überlebensgeschichten

■ Ein Gespräch mit dem Neurologen und Geschichtenerzähler Oliver Sacks

taz: Was fasziniert Sie an der Neurologie?

Oliver Sacks: Nun ja, zum Teil liegt es mir wohl im Blut, da meine Eltern beide Neurologen sind. Ich konnte mir auch einfach nicht vorstellen, mich ein Leben lang als Arzt mit Nieren und Rückenleiden zu beschäftigen — zudem ist das Gehirn das komplexeste und interessanteste Ding im Universum, also hab' ich mir gedacht: Warum eigentlich nicht? Warum nicht das Leben mit der interessantesten Sache auf der Welt verbringen?

In dem Film werden Sie von Robin Williams dargestellt. Als er sich um die Stelle eines Arztes in einer Irrenanstalt in Brooklyn bewirbt, sagt er, er habe fünf Jahre lang Untersuchungen an irgendwelchen Regenwürmern durchgeführt.

Ja, das stimmt schon, das habe ich auch gemacht. Sehen Sie, ich habe mir etwas Nachttischlektüre mitgebracht. Ein Buch über Zoologie und ein zweites über Botanik. Ich hatte immer schon eine heimliche Liebe für die Zoologie, und mit Regenwürmern habe ich mich wirklich auch wissenschaftlich beschäftigt, wenn auch nur ein Jahr und nicht fünf Jahre. Es war ein kurzer Versuch, ein „wirklicher Wissenschaftler“ zu werden, doch ich habe mich dabei ziemlich ungeschickt angestellt. Zum Beispiel habe ich irgendwelche Proben verloren, die wir bereits gemacht hatten, und mir fiel immer alles mögliche aus den Händen, bis sie irgendwann zu mir gesagt haben: „Verschwinde hier, du bist uns zu gefährlich — beschäftige dich lieber mit Patienten, da kannst du nicht so viel falsch machen.“

Für Würmer waren Sie also zu gefährlich, für Menschen nicht?

Ja, so muß man es wohl sehen.

Und ein „echter“ Wissenschaftler sind Sie niemals geworden?

Nein, ich glaube nicht. Ich habe deshalb auch immer noch ein schlechtes Gewissen, und wenn ich verreise, nehme ich mir deshalb gerne Biographien von echten Wissenschaftlern mit.

Aber was unterscheidet Sie von einem „echten“ Wissenschaftler?

Das ist eine ziemlich wichtige Frage. Kein „echter“ Wissenschaftler zu sein, diesem Vorwurf liegt oft die Vorstellung zugrunde, daß nur die Physik, Chemie, Zoologie und Physiologie als „echte“ Wissenschaften, als „hard sciences“ gelten, während man Medizin und Anthropologie eher für „soft“, für weiche, bloß historische und beschreibende Wissenschaften hält. Sie beschäftigen sich mit dem eher Spontanen, dem Unvorhersehbaren, dem Historischen und dem Einzigartigen, während man von der Wissenschaft allgemein erwartet, daß sie sich nur mit dem Wiederholbaren, dem Reproduzierbaren abgibt.

Doch eines ist mir im Verlauf meiner Arbeit klargeworden. Historische Wissenschaften sind ebenso bedeutsam und notwendig wie alle anderen Wissenschaften. Man braucht sie eben, wenn man sich mit der Entwicklung des Nervensystems oder des Menschen beschäftigt. Trotzdem bleibt oft das Gefühl, daß nur die klassischen Wissenschaften die „echten“ Wissenschaften sind, und wir, wir sind nur ein Haufen Romantiker und Geschichtenerzähler.

Robin Williams wird von den anderen Ärzten zunächst nicht besonders ernst genommen. Er wirkt lächerlich und etwas exotisch. Spiegeln diese Szenen Aspekte ihrer eigenen Erfahrung?

Viele Dinge in dem Film kommen der Realität schon recht nahe, andere sind natürlich eine Erfindung von Hollywood. Zu diesen Erfindungen zählen auch der exzentrische Arzt und der repressive Direktor, auch wenn es stimmt, daß ich damals durchaus eine gewisse Distanz zu meinen Kollegen verspürt habe.

Unter anderem natürlich auch deshalb, weil mein Interesse weniger statistischen Präsentationen als bestimmten Formen des Erzählens galt. So, jetzt ist es raus: Er ist also doch nur ein Geschichtenerzähler, hör' ich sie sagen, und kein Wissenschaftler.

Sie haben einmal gesagt, daß man diese Krankheiten nur verstehen kann, wenn man sie als Erzählung vertieft und darstellt. Was meinen Sie damit?

Ich wuchs in einem Haus voller Geschichten auf. Eine Fallgeschichte im üblichen Sinn handelt nun allerdings vom Verlauf einer Krankheit. Ich schreibe in dem Sinne keine Fallgeschichten, ich schreibe Überlebensgeschichten. Geschichten davon, wie man mit diesen Krankheiten lebt, davon, wie die Krankheit das Denken der Menschen und ihr Empfinden, ihre Moral beeinflußt. Jeder Anklang von Tragik oder Komik in diesen Geschichten ist eine Art Allegorie, und eine Fallgeschichte im klassischen Sinn läßt das nicht zu. Ich möchte also die engen Grenzen der klinischen Fallgeschichten wieder erweitern.

Also liefert die Literatur quasi die Mittel, ohne die Ihre Geschichten gar nicht zu erzählen sind.

Die Wahl meines Stils ist keine bewußte Entscheidung, die Geschichten können eben nur so geschrieben werden.

Das Buch zum Film ist dem englischen Lyriker W.H.Auden und zugleich dem sowjetischen Neurologen Lurija gewidmet. Eine seltsame Mischung, finden Sie nicht?

Ich glaube, man kann Literatur und Wissenschaft nicht voneinander trennen — beides ist beste Literatur für mich. Auden war übrigens auch der Sohn eines Arztes, und seine Gedichte werden häufig „klinische“ Literatur genannt. Ähnliches gilt für Lurija. Ich erinnere mich, daß ich eines seiner Bücher gelesen habe, und während der ersten dreißig Seiten dachte ich, es sei eine Erzählung, bis mir schließlich aufging, daß es eine Fallgeschichte ist — das eine floß übergangslos ins andere über.

Eine Zeitlang hatten Sie offenbar einige Schwierigkeiten, einen Herausgeber für Ihre Texte zu finden. Warum war das so?

Es war nicht leicht, mit meinen Kollegen ins Gespräch zu kommen, und man wollte meine Arbeiten zu der Zeit nicht in den medizinischen Fachzeitschriften veröffentlichen. Deshalb habe ich mich dann an ein größeres Publikum gewandt. Was ich zu sagen hatte, beunruhigte meine Kollegen ganz offensichtlich. Ich habe Dinge gesagt, die für sie ketzerisch klangen. Bei meiner Arbeit mit L-Dopa habe ich von Anfang an darauf hingewiesen, daß wir nichts über die Nebenwirkungen und Folgen dieser Droge wissen. Wir hatten bei allen Patienten anfangs Erfolge erzielt, aber wir waren auch mit Problemen konfrontiert, die nicht gerade einfach waren. Der ganze Vorgang war von einer Komplexität, mit der niemand gerechnet hatte. Ich habe bezweifelt, daß sich überhaupt etwas über den Verlauf der Anwendung von L-Dopa vorhersagen ließ. Dies hat meine Kollegen wohl sehr beunruhigt. Ich habe gesagt, daß wir die Dinge nicht im Griff haben, daß wir sie nicht verstehen, daß wir keine Vorbilder haben. Und allein die plastische Lebendigkeit, also sozusagen die literarische Qualität meiner Texte, hat sie abgeschreckt. Das war ihnen verdächtig. Awakenings ist nicht nur die Geschichte einer Droge, es ist auch die Geschichte eines einzigartigen Erlebnisses.

Hat sich Ihr Selbstverständnis als Arzt durch die Zusammenarbeit mit Ihren Patienten verändert?

Die Zeit des Erwachens war eine äußerst intensive Erfahrung. Ich habe damals einhundert Meter vom Hospital entfernt gewohnt, so nah, daß die Patienten oft auf eine Tasse Kaffee zu mir kamen, und durch diese Nähe legte sich das Gefühl, sie seien die Patienten und ich der Arzt. Leonard L. zum Beispiel, dessen Geschichte die Vorlage für den Film Awakenings abgegeben hat, war ein Mann von außerordentlicher, poetischer Sensibilität und Intelligenz. Keiner war dem anderen überlegen. Wir standen auf gleicher Stufe, Arzt und Patient, und haben zusammen gearbeitet, haben uns gemeinsam aufgemacht, die Krankheit zu erforschen.

Sie sagten, die „Zeit des Erwachens“ sei eine äußerst intensive Erfahrung gewesen. Hatten Sie da nicht Angst vor Hollywood?

Ja, natürlich! Ich gebe zu, ich bin explodiert, als ich das Original- Filmmanuskript gelesen habe. Damals habe ich gesagt: „Ich mache da nicht mit, laßt uns aufhören mit dieser ganzen Geschichte.“ Aber ich konnte die Sache nicht mehr aufhalten.

Sie konnten sie nicht mehr aufhalten? Warum nicht?

Aus rechtlichen Gründen. Ich wollte damals tatsächlich die Rechte zurückkaufen.

War das Manuskript so schlecht?

Das würde ich nicht einmal sagen. Ich konnte mir nur nicht vorstellen, wie daraus jemals etwas Vernünftiges werden sollte. Ich habe mich gefragt, wie aus einer solch dichten Erzählung voller Fußnoten, Zitate und ausführlicher Reflexionen, jemals ein Film werden sollte? Und, viel zentraler: Wie geht ein Film mit den komplexen neurologischen Wirklichkeiten um? Lassen sich neurologische Symptome überhaupt schauspielerisch darstellen?

Ich habe mich auch gefragt: „Wer wird die Stimme des Films sein?“ Schließlich bin ich die Stimme des Buches, doch wer wird der Erzähler im Film? Außerdem war mir nicht wohl bei dem Gedanken, daß man aus mir eine Filmfigur machen wollte.

Aber man hat meine ursprünglichen Einwände sehr ernst genommen. Das Drehbuch wurde stark geändert, so daß ich jetzt damit leben kann. Bei der Premiere in Toronto waren etwa hundert Patienten und genauso viele Neurologen anwesend. Für sie waren die Bilder authentisch. Sie hatten nicht das Gefühl, filmisch ausgebeutet zu werden; und das war für mich das Entscheidende.

Krankheiten sind offenar ein lukratives Thema. Sie kommen gut an, sind Publikumslieblinge. Man denke nur an „Rainman“ mit Dustin Hoffman, an „Mein linker Fuß“ mit Daniel Day Lewis und jetzt Robert De Niro in „Awakenings“; in der Literatur etwa ist es Christopher Nolan oder auch der Cambridge-Professor Stephen Hawkings...

Nun ja, daß diese Krankheitsgeschichten unterhaltend sind, ist natürlich schon ein Problem für mich, es läßt mir auch keine Ruhe. Aber die Krankengeschichten haben nun mal eine narrative, eine dramatische Struktur. Man würde ja auch wohl kaum einen Spielfilm über die Morphologie der Pflanzen drehen können.

Die Fallgeschichte Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte gab die Vorlage für eine Oper ab. Als mich damals der Librettist ansprach, fragte er mich, ob ich damit einverstanden sei, und ich habe ihm geantwortet: „Absurd, völlig verrückt; ich kann mir das überhaupt nicht vorstellen.“ Außerdem wußte ich nicht, wie Mrs.P., die Frau, die mit dem Hut verwechselt wurde, darauf reagiert. Bei der Premiere zur Oper kam Mrs.P. zu mir und zum Librettisten und meinte: „Ihre Arbeit ist für meinen Mann ein großes Kompliment.“

Trotzdem mache ich mir Sorgen, und das ist wohl auch angebracht, schließlich gibt es bei der Darstellung von Krankheit und Kranken immer die Gefahr, daß ihr Leid zu Unterhaltungszwecken ausgebeutet wird. Ich glaube allerdings, daß in diesem Film ein gewisser Respekt vor den Menschen und auch die Würde des Kranken bewahrt geblieben sind.

Aber warum ist Hollywood an diesem Thema interessiert? Und wie erklären Sie selbst sich die breite Leserschaft Ihrer Bücher? Woher diese Faszination?

Ich glaube in einer Zeit, in der die Ärzte, zumindest in Amerika, einen zunehmend schechten Ruf haben und in der die Medizin als technizistisch verschrieen ist, sehnt man sich nach einem Arzt, der zuhört und sich einfühlt und der ebenso menschlich ist wie seine Patienten. Grundsätzlich schreibe ich jedoch keine reinen Tatsachenberichte, auch wenn meine Geschichten auf Tatsachen basieren. Ich schreibe über Erfundenes und über das Extreme. Die Menschen, die ich zu sehen bekomme, sind sehr krank; ihre Krankheiten sind keine einfachen Fälle. Diese Menschen gehen durch eine Hölle, und sie überleben. Vielleicht übt es eine beruhigende und bestärkende Wirkung auf meine Leser aus, wenn ich vom Überleben schreibe. Außerdem interessiert mich die Fähigkeit zur Anpassung; die unerwarteten Kräfte, die Patienten unter der Herausforderung einer Krankheit oder einer biologischen Veränderung entwickeln.

Wer zum Psychoanalytiker geht, der hat doch eine gewisse Verantwortlichkeit für seinen Fall, seine Schwierigkeiten sind Teil seiner Biographie, sind Teil dessen, was er selbst ist. Ein neurologischer Fall aber ist vergleichsweise unverantwortlich für sein Geschick; es gibt keine unmittelbar kausale Beziehung zwischen einem Gehirntumor und der Lebensgeschichte des Patienten wie etwa zwischen einem psychischen Symptom und bestimmten Vorkommnissen in der Kindheit.

Viele meiner Patienten, zum Beispiel die Patientin, die in Awakenings Miriam heißt, fragen sich immer wieder: Warum habe ich diese Krankheit? Womit habe ich das verdient? Was bedeutet das? Man spürt einfach das Verlangen, die Gleichgültigkeit der Natur mit einer Welt zu vereinbaren, von der man jederzeit und überall erwartet, daß sie sinnvoll und bedeutsam sei.

Nun, manchmal sagt man, Krankheiten wie Krebs kämen von einem falschen Leben, hätten allein psychische Ursachen. Dagegen wehre ich mich mit aller Entschiedenheit. Ich halte es für unglaublich wichtig, die Autonomie des Organischen anzuerkennen.

Mit Oliver Sacks sprachen Lutz Engelke und Bernd Robben