Gibt es ein Leben nach dem Match?

■ Neue Worte des Tennisspielers Boris Becker aus Leimen/ Mit Zen auf den Zenter Court, vom Schlagarm zur Körpermitte/ Ein Superstar auf der Flucht vor den Zwängen seiner Existenz

Berlin (taz) — Geben wir's zu: Wir haben ihn gern, den Boris Becker. Ganz einfach deshalb, weil er uns besser unterhält als J.R. und Schimanski zusammen. Denn sobald er den Court betritt, können wir uns in der Gewißheit in den Fernsehsessel fläzen: Es wird uns was geboten. Angriff, Hechte, Rollen, Gags und Gesten. Emotion pur. Und das mindestens über vier Sätze, wenn wir Glück haben, fünf. Wenn Boris spielt, kann der Zuschauer nur gewinnen.

Keiner verliert so dramatisch wie er. Die Krönung ist jedoch, wenn er siegt, aus einem Zwei-Satz-Rückstand heraus, wie jüngst beim Davis Cup gegen Omar Camporese. Boris Becker Kämpferherz, der Meister des Mentalen, unsere Nummer eins, was schert uns der Computer. Und während wir uns zufrieden erheben, mit einem Anflug von Achselnässe, aber ohne Muskelkater, spielt Kämpferherz mit dem Infarkt.

„Immer am Limit, als ob es kein Leben nach dem Match gibt, so was geht an die Substanz, man brennt aus“, schildert er in der neuesten Ausgabe der Zeitschrift 'Sports‘ seinen Weg nach ganz oben. Doch es ist diesmal nicht die abgedroschene Geschichte des strahlenden Siegers, die Boris Becker, geb. Winner, erzählt. Es entblättert sich ein Idol, das keines sein will. Ein 23jähriger, der in den Spiegel guckt, auf der Suche nach dem, was die Leute so faszinierend finden an ihm: Boris B. aus L., eine Legende.

Eine Legende ohne Feierabend. „Das Brutale in meinem Leben ist ja, daß ich 24 Stunden am Tag berühmt bin.“ Er ist es leid, daß jeder ihn duzt und ihm auf die Schulter haut. „Nur eingesperrt in meinem Zimmer bin ich frei.“

Einerseits ist er voller Entschlossenheit, die Nummer eins zu werden, andererseits voller Angst davor. „Es ist die Angst, in ein Loch zu fallen, und auch die Angst, so zu enden wie Mats Wilander.“ Das heißt: wieder abzurutschen in der Weltrangliste. Denn was tun, wenn das Lebensziel erreicht ist? Wenn man, gerade erwachsen, so viel Geld hat, daß man den Rest des Lebens nur mit Atmen ausfüllen könnte? „Plötzlich wirst du der unglücklichste Mensch der Welt. Was ich dann gemacht habe, war eine Frage des Überlebens. Ich habe erkannt, daß es für mich keine absoluten Ziele mehr gibt, daß nur der Weg das Ziel sein kann.“

Boris Becker aus Leimen, linkischer Liebling aller Sprachimitatoren, vom Zen berührt? „Ich habe gemerkt: Im Grunde ist es ja scheißegal, ob ich die Nummer eins oder die Nummer zwei bin, es ändert sich nichts.“ Und doch fiel „eine Tonnenlast“ von seinen Schultern, als er es endlich geschafft hatte. „Alle Zweifel waren weg, ich fühlte mich frei, frei, frei...“

Doch als sie gerade wegfliegen wollte, spürte die Marionette, die keine sein will, die Fäden, die sie auf den Court von Melbourne zurückzogen. „Give peace a chance“, wollte er eigentlich angesichts des Golfkrieges sagen, brachte aber kein Wort heraus. „Daß ich das nicht gemacht habe, werde ich immer bedauern.“

Mißtrauisch ist er auch geworden. Angesichts der Lügen, die über ihn in der Zeitung stehen, fragt er sich, wie dann erst in der Politik, in den Nachrichten gelogen wird. Wie eine Katharina Blum des Tennis kommt er sich vor und liest die Biografien gescheiterter Massenidole — Marilyn Monroe, James Dean, Elvis Presley — um aus deren Fehlern zu lernen. Denn eines wäre sein Horror: Abgeschottet leben in einem Schloß wie Ivan Lendl.

Boris Becker Januskopf. Zum einen will er „in der Tennisgeschichte noch höher steigen“, gleichzeitig aber der Boris von nebenan sein, ein Jedermann. Inmitten einer Plastikwelt befindet er sich auf dem Selbstfindungstrip in Richtung 68er-Revolte gegen das „Establishment“, sein Jahrzehnt, wie er sagt. Und zwischen Hummer und Hafenstraße versucht er, seine Persönlichkeit gegen die Zwänge des Tenniszirkus durchzusetzen. „Ich habe mir eine Lebensphilosophie erarbeitet. Vom Markenprodukt Becker zum Menschen Becker.“ Preis: Unbezahlbar.

Da jagt es den Vertragspartnern den wohlverdienten Schauer über den Rücken. Denn Becker ist entschlossen, seine „guideline“ weg vom Schlagarm Richtung Körpermitte zu Zen-trieren: „Ich folge nur noch meinem Gewissen, ich gehe nach meinem Magen.“ Denn wo der ist, ist daheim, und wo daheim ist, ist Wahrheit: „Meine Heimat, das ist mein Körper.“ Wohl bekomm's. Michaela Schießl