Berlin vor der Verostung

■ Die vereinte Stadt gehört zu den Verlierern der Einheit

Die Tage der ehemaligen Westberliner Insel der Seligen am Tropf des Bundes sind gezählt — darüber macht man sich auch in Berlin keine Illusionen. Die Stadt hat nach der Wiedervereinigung auf lange Sicht keinerlei Berechtigung mehr, steuerlich begünstigt zu werden oder Sonderzuschüsse aus Bonn einzustreichen. Die Berlinförderung — inklusive der achtprozentigen Arbeitnehmerzulage — wurde geschaffen, um die Standortnachteile der Mauerstadt auszugleichen. Die Haushaltszuschüsse waren notwendig, um den Torso, ideologisch als Vorhut der westlichen Demokratie hochgehalten, am Leben zu erhalten. Der Berliner Senat hat für den Abbau beider Instrumente eine Frist von sieben Jahren gefordert, mit der er indes bei Theo Waigel auf Granit biß. Auch am Beispiel Berlins, das von den Folgen der Teilung wie der Einheit getroffen wird wie keine andere Region, zeigt sich, daß die Finanzierung der Einheit kein parteipolitisches, sondern ein geographisches Problem ist: Bonn ist weit weg von den neuen Ländern, sehr weit. Bleibt es bei dem Bonner Haushaltsgesetz, wird Berlin doppelt gebeutelt. Insgesamt 50.000 Arbeitsplätze drohen allein durch den raschen Abbau der Berlinförderung wegzufallen. Sollte zum Haushalt nur eine Milliarde zugeschossen werden, muß umverteilt werden — unübersehbare Kürzungen sind die Folge.

Die unionsgeführte große Koalition ist angetreten mit dem Versprechen, die Lebensverhältnisse in beiden Teilen der Stadt auf Westberliner Niveau anzugleichen. Ihren überwältigenden Wahlsieg im Westteil der Stadt verdankte die CDU nicht zuletzt der Hoffnung, mit einer CDU-Regierung finanziell besser gestellt zu werden als mit der in Bonn ungeliebten rot-grünen Koalition. Berlins Regierendem Bürgermeister Diepgen ist das Siegerlächeln bereits vergangen. Die Berliner CDU wird in den Bonner Vorzimmern abgehalftert und hat sich bisher völlig defensiv verhalten — nach dem Motto „Was nicht sein darf...“ Tatsache ist, daß sie bei ihren Bonner Parteifreunden bisher nicht eine Mark mehr herausholen konnte als die ungeliebten rot- grünen Vorgänger. Als letztes Mittel in der Not verfiel sie auf die Drohung, dem gesamten Finanzpaket im Bundesrat die Zustimmung zu verweigern. Bei den labilen Mehrheitsverhältnissen bleibt die Wirksamkeit dieser Drohung abzuwarten. Diepgen muß jetzt seinen Westberliner Wählern erklären, warum sie ihren Lebensstandard herunterfahren müssen; und er muß den Ostberlinern erklären, warum die großen Versprechen der Einheit alle nicht zu halten sind. Die SPD, die sich aus Angst vor dem Vorwurf, die Stadt unregierbar zu machen, mit der CDU verbündet hat, muß den Kopf mit hinhalten. Tragfähige Entwürfe für die Stadt fehlen bislang völlig. In seiner Regierungserklärung fiel Diepgen nichts Besseres ein, als betont zweckoptimistisch auf das „Unternehmen Berlin“ zu setzen — und das, obwohl die Investoren keineswegs Schlange stehen. West-Berlin steht angesichts der verheerenden finanziellen und ökonomischen Lage vor der Verostung — eine Erkenntnis, die in weiten Teilen der Bevölkerung noch verdrängt wird. Nachdem die ganze Welt nach dem Fall der Mauer auf die Stadt gestarrt hat, gehört sie jetzt wie die armen Nachbarn zu den Verlierern der Einheit und versinkt im uninteressanten Osten. Eine bittere Einsicht. Die Bonner Idylle bleibt davon unberührt. Kordula Doerfler