: Hauch von Rheinhausen in Gladbeck
In Gladbeck regt sich breiter Widerstand gegen geplante Schließung des Siemens-Telefonwerks ■ Von Bettina Markmeyer
Gladbeck (taz) — Ein Hauch von Rheinhausen weht derzeit in Gladbeck. Die ganze Stadt solidarisiert sich mit 980 Beschäftigten — fast nur Frauen — des Siemens-Telefonwerks, das der Konzern schließen will. Mit spontanen Demonstrationen und Warnstreiks hatten die ArbeiterInnen auf den Beschluß der Münchener Konzernleitung reagiert, die Montage von Telefonapparaten im Gladbecker Werk bis zum Herbst dieses Jahres einzustellen. Kundgetan hatten die Konzernchefs ihre Absicht Ende Januar auf einem Flugblatt, das die Siemens-Frauen zwischen Früh- und Spätschicht in die Hand gedrückt bekamen.
Seither reißen Unterschriftensammlungen, Kundgebungen und Krisentreffen nicht ab. Im Bürgerkomitee „Siemens muß in Gladbeck bleiben“ sind vom Oberbürgermeister bis zum Siemens-Betriebsrat alle vereinigt. Solidaritätserklärungen kommen von den Nachbarstädten aus der ohnehin von Arbeitslosigkeit gezeichneten Emscher-Lippe-Region bis hin zum Ministerpräsidenten, der die Siemens AG mahnend an ihre „soziale Mitverantwortung für die Region“ erinnerte. „Das Land“, lockte Rau, „wird auch weiterhin alle Fördermöglichlichkeiten für die Stadt Gladbeck und die Region voll ausschöpfen.“
Siemens will jedoch die Fertigung von Telefonen im 55 km entfernten Bocholter Telefonwerk konzentrieren. Der zunehmende Preisdruck seit der Aufgabe des Postmonopols im letzten Jahr, vor allem durch Apparate aus Billiglohnländern, zwinge sie, so die Geschäftsleitung, Produktionskosten einzusparen. Schon im Verlauf des letzten Jahres hatte der weltweit stark expandierende Elektronikkonzern 600 Stellen in Gladbeck gestrichen. Arbeitslos würden, argumentiert Siemens, die Gladbecker ArbeiterInnen nicht, sie sollten ins Bocholter Werk übernommen werden.
Vor allem gegen dieses, nach Meinung der Siemens-Frauen, bloße Scheinangebot, richten sich derzeit die Proteste. Die zusätzlich zur Arbeitszeit mehrstündigen täglichen Fahrtzeiten kommen für die Frauen einer Kündigung gleich, da sie Familien zu versorgen haben. Die Gladbecker Werksleitung baut indessen darauf, daß der einhellige Protest abbröckelt und will schon im April anfangen, Frauen aus dem Gladbecker Werk mit Bussen zur Schicht nach Bocholt zu fahren.
Die Stadt Gladbeck hatte die Siemens-Ansiedlung 1962 hochsubventioniert. Der Konzern versprach 5.000 Dauerarbeitsplätze für die unter Zechenschließungen leidende Region. Den Höchststand an Beschäftigten erreichte das Werk 1973 mit 4.500, seitdem wurde kontinuierlich rationalisiert und entlassen. Die letzte Massenentlassung traf 1983 800 Beschäftigte. Dennoch ist Siemens nach der Stadtverwaltung noch immer der größte Arbeitgeber der Stadt, für die dortigen Frauenarbeitsplätze gibt es keinen Ersatz. Prozentual gehen in Gladbeck mit der Siemens-Werkschließung erheblich mehr Arbeitsplätze verloren als in Rheinhausen. Obgleich der Betriebsrat Indizien für die geplante Schließung des Werks hatte — Auslagerungen verschiedener Fertigungsbereiche beispielsweise — hatte er sich von der Werksleitung noch Ende 1990 beschwichtigen lassen, das Gladbecker Telefonwerk werde gehalten.
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