Dreißig Sekunden im vierten Stock

■ Eine Szene des Films, den Jean-Luc Godard zur Zeit in der Ex-DDR und Berlin macht, wurde am Donnerstag in der taz gedreht

Christian, unser stets freundlich gesinnter Fotograf, ist ganz rot angelaufen und schnaubt vor Wut. So haben wir ihn noch nicht kennengelernt. »Scheiße«, schreit er die Filmredakteurin Christiane an, »dann macht doch euern Kram alleine!« Er knallt einen Packen mit Fotos auf den Computertisch und macht sich wild gestikulierend davon. Christiane hatte ihn allerdings auch ziemlich schnöde abgefertigt. Jetzt tippt sie an die Glasscheibe, die ihr Terminal vom Redaktionsraum trennt, und dann tippt sie sich an die Stirn, um der Literaturredakteurin Elke zu verstehen zu geben, was sie von Christians Auftritt hält. Elke guckt kaum hin, sie telefoniert gerade mit einer Londoner Autorin: »Du schickst mir einen Artikel über Südafrika und Fotos aus Indien. Da kann doch was nicht stimmen!« Ich selbst beuge mich derweil über den Nachbarschreibtisch und nerve die Kulturredakteurin Régine, die im Mittelpunkt der Szene steht und versucht, sich mit einem französischen Journalisten über Gefühl-Leidenschaft-Conrad-Deutschland zu unterhalten. »Das ist der Artikel über die Retrospektive«, sage ich ziemlich hektisch, »da müssen mindestens fünfzig Zeilen raus, das Layout macht totalen Druck.« »Mach' doch, da kann ich mich jetzt wirklich nicht drum kümmern«, zischt Régine. »Thierry«, unterbricht die immer noch telefonierende Elke, »der Typ vom 'Guardian‘ hat schon dreimal angerufen, kannst du da nicht endlich mal was machen?« »Jajajaja! Ich kann mich ja auch nicht zerreißen.« Ich sauge an meiner Zigarette und gehe ab. Annette, die zum Computer muß, kreuzt meinen Weg.

Ein ziemlich kompliziertes Ballett für eine Einstellung von vielleicht zwanzig oder dreißig Sekunden. Eine Einstellung in dem Film, den Jean-Luc Godard gerade in der ehemaligen DDR und Berlin dreht. Die Einstellung spielt in einer Zeitungsredaktion, und diese Zeitungsredaktion ist die taz, vierte Etage, Kulturredaktion überregional. Und wir spielen mit, richtige Sprechrollen — winzige, zugegeben.

Das hatten wir nicht geahnt, als wir am vergangenen Sonntag zu unserer großen Begeisterung erfuhren, daß Godard bei uns drehen wolle und als er uns in der taz besuchte, um den Drehort in Augenschein zu nehmen. Godard sah ganz genau aus wie Jean- Luc Godard: Hut in der Hand, Zigarre im Mund, stoppelige Wangen, schwere Hornbrille, ein etwas altmodischer, taillierter Mantel. Ein freundlicher kleiner Mann, der sich im Hintergrund hielt, während sein Aufnahmeleiter Romain Goupil die Gespräche führte. Aber er warf diese ein bißchen verstohlenen, aufmerksamen Blicke, die nichts von dem verraten, was sich im Gehirn dahinter abspielt. Wenn wir gewußt hätten, daß das ein Casting ist, wären wir bei den Dreharbeiten um einiges aufgeregter gewesen.

Jetzt, am Donnerstag abend, bei den Dreharbeiten, ist Godard gar nicht da. Er mußte dringend in die Schweiz. Goupil leitet die Aufnahmen. Wir sind zuerst sehr enttäuscht, dann vergessen wir über den konzentrierten und euphorisierenden Aufnahmen selbst das. Drei Proben, sechs oder sieben Takes, dann ein paar kleinere Einstellungen und Szenen, wo wir als Komparsen nicht gebraucht werden, Tonaufnahmen. Um sechs Uhr nachmittags hatte der Kameramann begonnen, das Licht zu setzen — kein zusätzliches, nur die vorgefundenen Schreibtisch- und Deckenlampen. Um zwei Uhr morgens ist alles zu Ende. Nur Elke ist sehr traurig. Godard, so erzählt der Kameramann, hätte ihr gerne eine richtige kleine Rolle gegeben. Sie hätte nur ein bißchen besser französisch können müssen. Das hätte sich doch arrangieren lassen! Jean Seberg, Anna Karina, Brigitte Bardot, Juliet Berto, Jane Fonda, Isabelle Huppert, Elke Schmitter. Immerhin — ich mein' — keine schlechte Tradition.

Solitudes ist der Arbeitstitel des Films, »Einsamkeiten« — ein Film in einer Reihe von 50-Minuten-Filmen, die der französische Fernsehsender Antenne 2 bei mehreren Regisseuren in Auftrag gegeben hat, unter anderen Kubrick, Wenders, Bergman und eben Godard.

Godards Film handelt von der Einsamkeit der DDR, nachdem sich das Medieninteresse längst an den Golf verflüchtigt hat und nachdem es die DDR gar nicht mehr gibt, sondern nur mehr so etwas wie den Abdruck eines Steins, der darauf lastete und nun fortgewälzt ist. Eddie Constantine spielt — 25 Jahre nach Alphaville — einen CIA-Spion namens Lemmy Caution, der seinen Einsatzort ganz weit im Osten der DDR hatte. Graf Zelten (Hans Zischler) besucht ihn und teilt ihm mit, daß er nun nicht mehr gebraucht werde. Lemmy Caution macht sich auf den Weg nach Westen. Madame de Staäl spielt auch mit, Tacitus wird zitiert, Sancho Pansa fährt einen helblauen Trabant, und Lotte, Milena, Liebelei, Brecht, Weill und Anton Webern kommen vor: »Sie haben die Musik totgemacht, das ist Amerika.« »Meinst du den betrunkenen amerikanischen Soldaten, der auf Webern geschossen hat?« »Jetzt taugt sie nur noch für Aufzüge und Kaufhäuser.« (Zitat aus dem Exposé) Der Film wird kein Happy-End haben. Lemmy Caution findet den Westen. Es ist kurz vor Weihnachten, eine böse Konsumwelt. Die Mörder von Webern oder Hans und Sophie Scholl könnten hier gerade einkaufen.

Drehorte waren Leipzig, Weimar, Bitterfeld, das DEFA-Gelände in Babelsberg, Potsdam und Berlin. Die Dreharbeiten sollen Anfang März beendet sein. Letzter Drehort ist Stralsund. Das Rohmaterial, so berichtet die kleine Crew von vier oder fünf Technikern und Assistenten, mit der Godard seine Expedition unternahm, sei beeindruckend — ruhig und präzis. Man überlege, ob man neben der Fernsehversion nicht noch eine längere Fassung daraus machen solle. Wir würden das begrüßen. Thierry Chervel