Das Durchleben des Traumas

■ „Ich war eine Geisel“, Sonntag, 20.00 Uhr, West 3

„Sie sind gemein“, sagt der französische Industrielle Edouard-Jean Empain, als er in dem Fernsehstudio eine exakte Kopie des Zeltes entdeckt, das 1978 für 63 Tage sein Gefängnis war. Erpresser hatten den schwerreichen Baron in Paris entführt und ihn wie ein Tier mit einer Halskette gefesselt — in einem winzigen Zelt, das unter Campern scherzhaft „Hundehütte“ genannt wird. Heute kann Edouard-Jean Empain nicht ohne Beklemmung in ein derartiges Zelt kriechen und weigert sich deshalb indigniert, die Situation für die Kamera nachzustellen.

Manchmal müssen Journalisten gemein sein, wenn sie Außergewönliches von außergewöhnlichen Menschen erreichen wollen. Vielleicht wäre es den Autoren Patrick Valson und Jean-Claude Raspiengeas auch ohne die Wiederholung der klaustrophobischen Erfahrung in langen Interviews gelungen, der ehemaligen Geisel mehr zu entlocken als eine Schilderung des Tathergangs. So aber sind sie zwar brutal, aber direkt beim Thema und erfahren von dem Industriellen sehr spontan und emotional, was er während der Entführung empfunden hat. Drei Geiseln befragte das französische Fernsehteam, drei nachgebildete Orte der Peinigung sind zu sehen — und jedes Mal löst der Schock dieser Provokation ein Erinnern voller Schmerz, aber auch eine einfühlsame Darstellung aus, die der Zuschauer mit Anteilnahme verfolgt.

Zweifelsohne haben die Autoren eine drastische Methode gewählt, aber die Legimität solcher Interviews müßte auch an jedem anderen Film diskutiert werden, der die Opfer von Gefangenschaft und Mißhandlungen noch einmal zum Durchleben des Traumas auffordert. Wer die Frage nach der Notwendigkeit derartiger Filme positiv beantwortet, sollte dem Autor auch freie Hand bei der Art der Befragung lassen — solange dem Interviewten die Möglichkeit bleibt, seine Grenzen selbst zu setzen. Edouard-Jean Empain sagt Nein zum Zelt und erzählt dann doch davon, aber er tut es freiwillig. Daß es ungezwungen geschieht, beweist die flüssige und spannende Erzählweise, die die Autoren nur unwesentlich kürzen und straffen mußten.

Neben den beiden anderen Geiselnahmen nimmt sich die Entführung von Edouard-Jean Empain fast wie ein glimpfliches Abenteuer aus. Gerhard Vaders, ein niederländischer Reporter, saß dreizehn Tage in einem Zug, der 1975 von Molukken gekidnappt wurde. Die Terroristen hatten ihn bereits für die Hinrichtung ausgewählt, doch im letzten Moment mußte ein anderer sterben. Der französische Journalist Jean-Paul Kauffmann geriet 1985 in Beirut für drei Jahre in die Gewalt von schiitischen Fundamentalisten. Mehrmals wurde er, mit Klebeband zu einer Mumie verpackt, in einem Metallsarg an einen anderen Ort verlegt — eine grausame Erfahrung, die Kauffmann heute mit einer Hinwendung zum christlichen Glauben zu bewältigen sucht.

Erstaunlich und zunächst unbegreiflich wirkt es, wie die Geiseln nach ihrer Befreiung über die Heimkehr in ihre Lebenszusammenhänge berichten. Jean-Paul Kauffmann spricht von einer Probe, die ihn gereinigt habe, und der Baron, der nach der Entführung seine Firma aufggeben mußte, geht sogar noch weiter: „Die Zufriedenheit, die ich jetzt erreicht habe, wäre ohne Geiselnahme nicht entstanden. Ich fühle mich so wohl in meiner Haut wie nie.“ Christof Boy