Philosophen zum Golfkrieg

■ Die zynisch-idyllische Illusion eines Kleinkriegs

Schwer zu antworten, soweit es um Tatsachenfragen geht, die den Golfkrieg betreffen. Unsere Informationen sind zu spärlich. Und vermutlich eher Desinformationen. Ich denke dabei gar nicht so sehr an die Berichte über den Krieg, über die Situation „vor Ort“, meine nicht die Zensur. Zur Not kann man sich vorstellen, was geschieht. Ich habe vielmehr die Informations- und Medienmaschinerie im Auge, die seit der Annexion Kuwaits und den ersten UNO-Sitzungen abläuft. Medientheoretiker meinen, die Präsenz des Themas in den Medien habe den Krieg unvermeidlich gemacht (keine der Seiten habe es noch riskieren können, ihr Gesicht zu verlieren). Das Gegenteil dürfte zutreffen. Der Krieg war beschlossene Sache — und man hat die Medien eingesetzt, um ihn für die Bevölkerung unvermeidlich, „gerecht“, notwendig etc. erscheinen zu lassen. Deutlicher gesagt: Die Rolle der Medien ist tatsächlich immens. Aber man täuscht sich über die Art dieser Rolle. Die Medien sind nicht Akteure, sondern Erfüllungsgehilfen — unfreiwillige Erfüllungsgehilfen einer medial versiert gewordenen Politik, denn wozu dienen die Medien? Sie erreichten einen gigantischen Abschirmungsschild, hinter den wir zu blicken vermögen. Durch diesen Schild vor der Öffentlichkeit geschützt, trifft die Politik ihre Entscheidungen — die sie uns dann mittels der Medien verkauft. Politik vollzieht sich in einer Black Box — uns bleibt die Filmmerkiste. Was sie uns über die Politik vermittelt, ist genau das, was die Politik uns wissen machen will und zu diesem Zweck für die Medien inszeniert. Wir bekommen nicht Fakten, sondern die zu deren Unterstützung förderlichen Fiktionen geliefert. Abschirmung der Fakten plus Induktion der erwünschten Bewertungen — das ist die „politische“ Funktion der Medien heute. Bush, Gorbatschow und Hussein wissen diesen Medienservive gleichermaßen brillant zu nutzen.

Was tut ein Philosoph in dieser Situation? Noch immer — wie seit Platons Höhlengleichnis — müht er sich, die Bilder nicht für die Wirklichkeit zu nehmen, den Schirm zu durchdringen, durch Analyse von Unstimmigkeiten der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Kein Nachkochen der Meinungssuppe. Zwei Versuche:

1. Ihre erste Frage beinhaltet eine Verwirrung. Erstens gehört zum Pazifismus stets „Wahrscheinlichkeitsrechnung“, eine „Art Schadensvergleich mit dem Krieg“; zweitens aber ist, eine solche Rechnung speziell angesichts des drohenden Einsatzes von ABC-Waffen drchzuführen, nicht Sache des Pazifisten, sondern des Nichtpazifisten. Denn erstens: Der konsequente Pazifismus vergleicht zwei Schäden — Erobertwerden und Gewaltanwendung. Da letzteres in seinen Augen das größere Übel darstellt, nimmt er lieber das Erobertwerden hin. Daher ist, zweitens, er durch den Einsatz von ABC- Waffen nicht bedroht; gegen ein Land, in das man bloß einzumarschieren braucht, wird niemand ABC-Waffen einsetzen. Diese Drohung muß hingegen der Kriegsbereite ernst nehmen und ins Kalkül ziehen. Er muß wissen, daß es zur Logik des Kriegs gehört, daß der eine die Waffen des anderen scharf macht.

Im Falle des Golfkriegs sind auch weitergehende Drohungen im Spiel: Abbrennen der Ölfelder, „Weltfinsternis“, globale ökologische Katastrophenwirkungen. Das ist eine neue Dimension von Bedrohung. Die militärischen Handlungen mögen lokal begrenzt bleiben — die Vernichtungsfolgen könnten weltweit sein. Der lokale Krieg könnte, auch wenn nur wenige Nationen an ihm teilnehmen, die Dimension eines Weltkriegs annehmen. Die äußerste Drohung ist: In dem Moment, wo der Krieg von den Alliierten militärisch gewonnen wird, könnte Husseins Vernichtungspotential — durch eine Verzweiflungstat — auf die Welt überspringen. Mit dieser Gefahr muß, wer diesen krieg eskaliert, rechnen. Diese Folgen muß er abschätzen, diesen Schaden erwägen.

Oder konnte man glauben, in einen anderen Krieg einzutreten? Die UNO-Resolutionen erlaubten einen Krieg zur Befreiung Kuwaits. Einen solchen kann man mit guten Gründen für gerechtfertigt halten. Aber auch für führbar? Hier beginnt das Dilemma. Kuwait kann nicht ohne massive Zerstörung des Irak befreit werden (jedenfalls nicht ohne immense eigene Verluste). Das ist militärisch klar. Die kriegerische Befreiung Kuwaits zuzulassen oder zu beginnen, hieß also von Anfang an, genau den Krieg zuzulassen oder anzufangen, der nun geführt wird. Bush hat es in der ersten Kriegsnacht auf seine Weise ausgedrückt. Er sagte, die Kriegshandlungen richteten sich nicht gegen das irakische Volk; dem mußte man entnehmen, daß ein Vernichtungskrieg bevorsteht — der nur nicht so gemeint sein sollte. Dieser Vernichtungskrieg aber macht potentiell die globalen Vernichtungsdrohungen Saddam Husseins scharf. Diese militärische Logik mußte schon die UNO berücksichtigen. Sie durfte nicht — zynisch-idyllisch — mit der Illusion eines Kleinkriegs winken. Sie mußte die Weltdimension nicht nur auf der Seite des Völkerrechts, sondern auch auf der Seite des Katastrophenrisikos ins Auge fassen.

Gegenüber dieser Frage sind andere Erwägungen — bei aller Wichtigkeit — von nachgeordneter Bedeutung. So beispielsweise die Analyse von Interessen und Motiven. Ich glaube nicht, daß die UNO dabei ein sehr gutes Bild abgibt. Natürlich sind auch für die USA — neben dem völkerrechtlichen Motiv, daß die Annexion Kuwaits ein unerträgliches Unrecht darstellt — andere Motive im Spiel. Dabei würde ich nicht — allzu intellektuell — an „das Unbehagen an einem nicht säkularisierten, nicht demokratisch organisierten Teil der Welt“ denken, sondern an Handfesteres: natürlich ans Öl. An das Problem einer neu aufsteigenden arabischen Weltmacht zwischen West und Ost (wir werden in den kommenden Jahren viel über sie lernen müssen); an die Bedrohung Israels und anderer Staaten in der Golfregion; an die Chance der USA, Anerkennung als Ordnungsmacht Nr.1 der Welt zu finden. Das ergibt, zusammengenommen, natürlich eine schlagkräftige Motivmischung.

Nur ist erstens der Befreiungsbeschluß nicht schon deswegen verwerflich, weil solche Motive mitspielen Im Gegenteil, dergleichen kann unter Menschen nötig sein; schon Kant meinte, das menschliche Geschlecht müsse das große Gut der Aufklärung „sogar von der selbstsüchtigen Vergrößerungsabsicht seiner Beherrscher ziehen“. Man kann geradezu froh sein, wenn solch handfeste Motive einmal zur Durchsetzung eines moralischen Zieles zusammentreten (hat freilich auch Anlaß, darüber zu wachen, daß sie dieses Ziel nicht verkehren).

Zweitens jedoch entbindet das wie immer moralische Ziel nicht von der Pflicht zur obengenannten Abwägung und Kalkulation. Konnte sie in diesem Fall verantwortlicherweise zum Ergebnis haben, daß der Krieg zu führen sei? Meine Antwort ist nein. Stets muß die Abwägung ein Gut bzw. Risiko mit einem anderen vergleichen und die Angemessenheit verschiedener Mittel prüfen. In diesem Fall also zunächst das Risiko weiterer regionaler Usurpationen und Grausamkeiten Saddam Husseins, wenn man ihm nicht Einhalt gebietet (a), mit dem Risiko einer potentiell weltweiten ökologischen Katastrophe, falls man Saddam Hussein militärisch zu vernichten sucht (b). Beide Seiten dieser Alternative sind inakzeptabel. Bleibt die andere Strategie, die eines drastisch verschärften, langfristigen Emargos (c). Nach allem, was wir wissen, wäre ein solches Embargo imstande, Saddam Hussein auf längere Sicht „in die Knie zu zwingen“. Die Drohung (a) wäre somit gebannt. Freilich gilt es dann immer noch, die Gefahr abzuschätzen, daß Hussein auch hier zuletzt zum Verzweiflungsschlag mit ABC-Waffen und ökologischen Katastrophenfolgen ausholt (b). Interne und externe Gründe sprechen jedoch dagegen, daß ein solcher Schritt im Fall des Embargos auch nur annährend so wahrscheinlich wäre wie im Falle militärischer Bedrohung. Denn während die letztere die irakische und arabische Solidarität mit Saddam Hussein geradezu provoziert, würde die Embargostrategie seine Position eher lähmen — möglicherweise so effektiv, daß es zum Sturz des Diktators käme, gewiß aber so nachhaltig, daß die arabische Welt ihn vom Verzweiflungsschlag abzuhalten versuchen würde. (Und man sollte bei allen Erwägungen nicht übersehen, daß die Lösung letztlich eine arabische Lösung wird sein müssen.) Deshalb hat eine rationale Abwägung eindeutig zum Ergebnis: kein Krieg, aber massivstes Emargo. — Soviel zu Ihrem Stichwort „Schadensvergleich“ und zu seiner korrekten Applikation.

Zu Ihrer vierten Frage eine prinzipielle Antwort. Ein Zusammenleben der Staaten scheint mir heute in der Tat nur nach Maßgabe der Völker- und Menschenrechte denkbar zu sein. Man mag darin einen Eurozentrismus vermuten. Das würde sich zunächst freilich nur auf den genealogischen, nicht auf den Geltungsaspekt dieser Vorstellung und ihrer Überzeugungskraft beziehen. Allerdings ist zuzugeben, daß die Konzeption der Völker- und Menschenrechte, streng genommnen, nur unter ihrer eigenen Voraussetzung überzeugend ist. Einen radikalen Fundamentalismus vermag sie nicht zu überzeugen. Denn für ihn ist die darin enthaltene Grundintention — die Anerkennung und friedliche Koexistenz unterschiedlicher Kulturen — bereits ein Zeichen von Dekadenz.

Aber dann hat er selbst nur zwei Möglichkeiten. Entweder läßt er die anderen (obgleich als Verlorene, Dekadente, Unerleuchtete) andere sein. Damit teilt er zwar nicht die Auffassung, aber das Schema der Pluralität und Friedfertigkeit — und das genügt. Oder er will die anderen belehren — und ist ihr Geist nicht willig, so gebraucht er Gewalt gegen ihr Fleisch. So in den Diktaturen, die andere um deren Heiles willen unterwerfen.

Das ist die klare Alternative: Recht des anderen oder Unterwerfung des anderen. Sie wird nur scheinbar dadurch infrage gestellt, daß die Forderung an den Fundamentalisten, das Recht anderer anzuerkennen, dessen Unterwerfung unter das europäische Modell zu verlangen scheint. Wohl handelt es sich um eine Zumutung, die von seinen Prämissen aus nicht einleuchtend ist. Aber sie ist rechtfertigbar. Denn das europäische Modell ist das einzige unter den Weltkulturen, welches sich dem Problem des Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen eigens gestellt und eine Lösung dafür entwickelt hat. Übrigens geschah das nicht freiwillig, sondern gezwungenermaßen: durch den Druck konkurrierender Absolutheitsansprüche, die (a) von besonderer Massivität waren, weil dem Abendland eine Art Hyperfundamentalismus (die Konzeption eines starken, ausschließenden Absoluten) eingeschrieben war, die nun aber (b) kulturintern in kriegerischer Konkurrenz auftraten und diese Kultur zu zerfleischen drohten. Eben das nötigte diese Kultur zu derjenigen Transformation, die wir die Aufklärung (hervorgegangen aus den Religionskriegen) nennen und die eine Konzeption für das friedliche Zusammenleben unterschiedlicher Völker hervorbrachte. Das zeichnet dieses Kulturmodell für die gegenwärtige Weltproblemlage aus, in der es eben um das Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen geht. Besseres haben wir dafür — gegenwärtig und absehbar — nicht zur Hand.

Wie gesagt, man mag das einen abendländischen „Partikularismus“ nennen, aber man darf nicht übersehen, daß es sich dabei um jenen reflektierenden Partikularismus handeltl, der nicht einfach seine Tradition als universales Modell setzte sondern der aus der Einsicht in die Partikularität aller Lebensformen einen Universalismus entwarf, der die Anerkennung anderer Lebensformen zum Inhalt hat.

Eine solche Konsequenz läßt sich übrigens nicht „absolut“ begründen, wohl aber geschichtlich und rational legitimieren. Das ist auch völlig ausreichend. Die Einsicht in die unvollkommene Begründbarkeit aber (im Unterschied zu einem Anspruch auf vorgeblich einwandfreie philosophische Letztbegründung) ist von der Logik dieses Konzepts untrennbar. Wird diese Zurückhaltung nicht geübt, so stimmt die Praxis nicht. Zumal nach außen ist eine solche Zurückhaltung nötig. Ein abendländischer Fundamentalismus wäre nicht besser als irgendein anderer.

Der Autor ist Professor für Philosophie an der Universität Bamberg. Zuletzt erschien Ästhetisches Denken (Reclam) und in dritter Auflage Unsere postmoderne Moderne (VCH Acta humaniora)