Vom Osten lernen

■ Mit einem Angriff auf die Bürgerrechte betritt Justizminister Kinkel die politische Bühne

Bürgerbeteiligung, kommunale Selbstverwaltung, Gewaltenteilung, Föderalismus. Wie eine Monstranz haben Generationen von West-Politikern in ihren Sonntagsreden die Elemente des dezentral verfaßten Rechtsstaats vor sich hergetragen — nicht zuletzt in Abgrenzung zu jenem „Zentralismus“ hinter dem Eisernen Vorhang, der angeblich „demokratisch“ sein wollte. Tatsächlich scheiterte in der alten Bundesrepublik der siebziger und achtziger Jahre vor Ort mancher Großangriff auf die Natur am hinhaltenden (auch juristischen) Widerstand penetranter Bürgerinitativen. Ohne den breiten Protest der Betroffenen sähe die westliche Republik heute anders aus, wäre das Autobahnnetz enger geknüpft, strahlten am Niederrhein der Schnelle Brüter und in der Oberpfalz die atomare Wiederaufarbeitungsanlage vor sich hin, wäre Stuttgart-Echterdingen nicht Standort eines Provinz-Airports, sondern eines internationalen Großflughafens. Im nachhinein erkannten häufig genug auch Politiker und Projektplaner selbst, daß das zähe Engagement der Betroffenen manches Katastrophen-Projekt gerade noch rechtzeitig gestoppt oder wenigstens doch „zivilisiert“ hatte.

Und nun? Nach den Plänen der Bundesregierung sollen künftig der CDU-Abgeordnete Müller (Donaueschingen) und der FDP-Hinterbänkler Meyer (Saarlouis) im Bonner Wasserwerk über die Trassenführung neuer Betonpisten durch die Mecklenburgische Seenplatte befinden. Ganz nebenbei hat Kinkel für die Investitionsunlust der florierenden West-Wirtschaft in den Ost-Ländern eine neue Ursache ausgemacht: die desolaten Autobahnen. In Wirklichkeit soll das neue Deutschland im Sauseschritt als „zentrales Ost-West-Transitland“ präpariert werden, um dem drohenden Verkehrsinfarkt zu entgehen. Wie seit Jahrzehnten schon wird die Landschaft weiter autogerecht zugerichtet und der Schienenverkehr zur pflichtschuldigst angefügten Fußnote. Altes Denken also, angereichert mit Versatzstücken aus dem Zentralismus östlicher Prägung.

Der Vorschlag des neuen Justizministers ist weder überraschend, noch ist er isoliert zu betrachten. Die Ministerialbürokratien haben die deutsche Einheit weitgehend allein in die Wege geleitet. Nun wollen sie sich — angesichts des gewaltigen Problembergs — nicht auch noch mit aufmüpfigen Bürgern herumschlagen. Hat nicht gerade der CSU-Fraktionsvorsitzende im bayerischen Landtag, Alois Glück, die Möglichkeit des Plebiszits grundsätzlich zur Disposition gestellt und dies ganz unverblümt mit der Feststellung begründet, das Volk sei eben zu dumm für Entscheidungen über komplexe Zusammenhänge wie die Müllfrage? Kinkels Vorschlag ist auch Bestandteil eines Rollbacks gegen jene alten Forderungen nach mehr Bürgerbeteiligung, nach Erweiterung der repräsentativen Demokratie um plebiszitäre Elemente, die insbesondere die Bürgerbewegungen der ehemaligen DDR neu thematisieren.

An einem Punkt allerdings liegt der neue Justizminister strategisch goldrichtig: Auch Massenkarambolagen auf der Autobahn steigern das Bruttosozialprodukt. Die kann es aber nur geben, wenn der Verkehr fließt — wenigstens von Zeit zu Zeit. Gerd Rosenkranz