„Der krumme Weg ist immer der kürzeste“

Dresden lernt die Marktwirtschaft: Ein Bordell, das keins ist, ein Landbäcker, der um seinen Stand am Altmarkt fürchtet  ■ Von Caroline Böttcher

Dresden (taz) — Während die ehrgeizige, aus Düsseldorf eingekaufte Regierungssprecherin des Landes Sachsen im Opel an der Drei-Königs- Kirche vorfährt, um Herrn Weizsäcker gebührend zu begrüßen, kriegt der erste Obdachlose der Stadt gerade ein Stück Brot. Das zweite Bordell der Stadt ist eröffnet worden. Ein Mann tritt heraus. Verwirrt. Mit einer bekleideten Frau hat er noch nie geschlafen. Und ob sie nicht eine künstliche Scheide hatte, weiß er auch nicht genau. Beim nächsten Mal weiß er, daß er sie nicht mehr streicheln wird, weil das 50 Mark mehr kostet. Noch sitzen die Männer im Warteraum Schlange. Tagsüber ist nur eine Frau da, abends kämen noch zwei dazu, läßt der Ladeninhaber wissen. Und demnächst werde es ganz anders... Wahrscheinlich ist ihm klar, daß es für Frauen kaum Arbeitsplätze in Dresden gibt. Noch rotieren viele Frauen, um in die Kategorie der Auserwählten zu gelangen, jener, die ihren Arbeitsplatz noch behalten können. Die Geschäftsleitungen nutzen diese Motivation unverschämt aus. Überstunden und Wochenendarbeit sind an der Tagesordnung, für ein Dankeschön, bis Modernisierung und Technisierung in Verwaltungen, in Banken und Versicherungen abgeschlossen sind. Die Allianz-Versicherung wird im März schon ihren ersten großen Schub von Entlassungen vornehmen. Und da sind es sicher die Frauen mit Kindern, die als erste gehen werden.

Der Landbäcker aus Weißig bittet um Unterschriften. Er will erreichen, daß er seinen kleinen Stand auf dem Altmarkt behalten kann. Auch er sei das Volk, meint er, und hat noch nicht begriffen, daß er wohl gerade deswegen den attraktiven Platz für die Zahlungskräftigen außerhalb des Volkes wird räumen müssen. Der Täschnerwaren-Vertreter liest gerade ungläubig den Brief seiner Firma aus Hannover. Diese fordert von ihm umgehend 6.000 DM seines Gehaltes, das sie ihm in den letzten vier Monaten gezahlt hatte, zurück. Der Buchhalter habe sich verrechnet, schreibt sie. Und da habe er immer angenommen, so was könne in der korrekten westlichen Welt nicht passieren. Nun ist sein Monatsgehalt auch nicht höher als früher beim Konsum, sinniert er.

Der Kunstwissenschaftler versuchte, nachdem er seine Anstellung an der Hochschule für Bildende Künste verloren hatte, Kleidungsstücke zu kreieren. Bald merkte er jedoch, daß er davon nicht leben kann. Mittlerweile verkauft er Kleidung. Dennoch konnte er es sich nicht verkneifen, ein T-Shirt mit darunterzumischen, das er selbst entworfen hat und das eine Aufschrift ziert: „Der krumme Weg ist immer der kürzeste. Lessing“. Diesen Slogan hatte sein Drucker namens Lessing ausgespuckt.

Der 25jährige Schlosser hat gerade erfahren, daß er im nächsten Monat auf Kurzarbeit gesetzt wird. Dabei war er einer derjenigen, die die Marktwirtschaft am meisten gelobt hatten. Daß es nun gerade ihn trifft, das hatte er nicht erwartet.

Der arbeitslose Philosoph muß seine neu eröffnete psychologische Beratungsstelle wieder aufgeben und sich einen Job bei der Versicherung suchen. Kein einziger Kunde hatte ihn aufgesucht. Die Menschen der Stadt sind offensichtlich noch nicht reif dazu. Außerdem hat wohl auch keiner Geld dafür. Wurden die Sorgen bisher mit dem Freund oder der Kollegin bequatscht, so ist das nach wie vor üblich. Der 56jährige Arzt erzählt seine Sorgen in der Kneipe gerade dem Maler, mit dem er immer gut reden konnte. Er hat seinen Arbeitsplatz in der Poliklinik verloren und lebt jetzt von Arbeitslosenunterstützung, denn er traut sich nicht zu, eine eigene Praxis in dieser Stadt aufzumachen. Ganz davon abgesehen, daß ihm niemand einen Kredit dafür gibt. Der jungen Kollegin ist das gelungen. Nur — wie wird sie es packen, wenn jetzt auch noch die Schnelle Medizinische Hilfe wegrationalisiert wird? Wird sie nun auch noch nachts Dienst schieben müssen? Na, die wollen alles vorgesetzt kriegen, echauffiert sich der Bankangestellte aus Bielefeld — der allein 1.800 Mark monatlich an „Auslösung“ dafür einstreicht, daß er den aus seiner Sicht beschränkten Sachsen beibringt, wie sie ihr Geld anzulegen haben. Die Immobilienhändlerin regt sich auf, daß die Kommunale Wohnungsverwaltung sich so sperrt, ihr die Grundstücke zu verkaufen, die sie ausgesucht hat. „Die werden uns alle auch noch mit reinreißen.“ Die Dresdner begreifen eben zu langsam die beste aller Marktwirtschaften.