O Mensch, du Korallenriff!

■ Im Freiraum-Theater: “Tatoeba“, eine groteske Butoh-Tanzperformance

Zum Bespiel so: tief unten auf dem Meeresgrund zittert ein pflanzenhaftes Wesen aus Liane und Koralle und dem Leben entgegen. Läßt einen tentaktelhaften Arm mit der Dünung zur Erkundung ausschweben, nach links. Schreck, Ruck zurück, wie elektrisiert. Der Arm wird in den Körper zurückgenommen, die Zeit steht, aber dann sucht das verbrannte Kind erneut das elektrisierende Feuer, fährt die Zunge zur unerforschten rechten Seite aus, reckt und leckt und kriegt nicht genug vom unbekannten Leben. An dieser Stelle lacht das Publikum, das sich auf den 99 Plätzen des Freiraum-Theaters drängelt. Unweigerlich.

Der Umschlag vom Schrecken vor dem fremden Leben zu seiner Erkundung gibt den Rhythmus ab für beide Stücke der Butoh-Tänzerinnen Yumiko Yoshioka und Minako Seki: „All Moonshine“, das Yumiko solo tanzte, und „T. for Three“, das die Japanerinnen mit dem deutschen Partner Delta Ra'I machen.

Der Moment ist der Umschlagpunkt einer anfangs stillen Pflanzenhaftigkeit in eine Phase schneller Metarmophosen zwischen Mensch und Tier, von Invasionen westlicher Musik, von sexuellem Anbieten und fleischlichem mingle-mangle, von Leben mit verdrehten Augen und auf verdrehten Beinen, in der sich die erdnahen Sitzbewegungen des Anfangs zu raketenhaften Expeditionen in den Raum oben mausern, bevor eine dritten Phase zur Erdnähe des Anfangs zurückkehrt.

Der Rhythmus von Tatoeba'sButoh-Tanz, den 1959 Tatsumi Hijikata und Kazuo Ohno aus traditionellen japanischen Elementen und aus dem deutschen Ausdruckstanz der 20er Jahre erfanden, ist Philosophie. Er zeichnet den Lauf der Menschwerdung nach, der Gattung wie des einzelnen Lebens, mit den Phasen Jugend, praller Mitte und Alter, aus der Zeit, ehe das Ideal der ewigen Jugend diese Phasen überformte.

„Fremd“ und „faszinierend“ hörte die Berichterstatterin das Publikum in der Pause sagen, und das traf auch ihren Eindruck. Wobei sie sich merkwürdigerweise in dem „Fremden“ sich gut zurechtzufinden schien.

Man soll das nicht im Programm lesen, daß unsre Körper und Seelen „ein Erbe des Kosmos und immer noch ein Teil davon sind“, weil, es hört sich an wie esoterische Konfektion. Aber wenn Yumiko Yoshioka in der oben beschriebenen Anfangsphase aus ihrem weißgepuderten Pflanzenrücken zittrig einen korallenfingrigen Seitentrieb hervortreibt, dann ist das umstandslos zu sehen.

Genauso deutlich wie der Unterschied zwischen östlichem Butoh und westlicher Pantomime, wenn die beiden Japanerinnen sich ratzbatz in zwei gefährlich lüsterne Äffinnen verwandeln und ihr Partner den imponierenden Pavianmann dazu nur spielt. Uta Stolle