Ein Held für einen Tag

Ein holländischer Nobody namens Jan Siemerink forderte im Halbfinale der Stuttgart Classics den großen Stefan Edberg zum Tennisduell heraus  ■ Aus Stuttgart Peter Unfried

„Siemerink, la révélation“, titelte 'L'Equipe‘ am Samstag euphorisch, und auch Stefan Edberg zollte dem Niemand Tribut: „Er ist einen ganz schön weiten Weg gegangen.“ Jan Siemerink, 20, Holländer und bisher die Nummer 98 der bekannten Liste war urplötzlich jemand. Er, und nicht einer der zahlreichen Topspieler, trat am Samstag nachmittag im Halbfinale der Stuttgart Classics gegen Stefan Edberg an, auf dem Centre Court und vor vollem Haus.

Ungewohnt für einen, dessen zuhause bis dato die Vorqualifikationen waren. Das heißt: Spielen zu unchristlichen Zeiten, vor leeren Rängen, Tage, bevor das Turnier überhaupt beginnt. Und wenn es dann beginnt, schon Abreise zum nächsten, weil nur wenige Plätze für viele, viele Anwärter zur Verfügung stehen. In Stuttgart waren es vier, aber 32 wollten ins Turnier. Das bedeutete für den „siegenden“ Holländer drei Vorspiele.

Dann braucht man Glück. Glück, daß Erstrundengegner Horst Skoff keine Lust hatte oder nicht in Form war. Und plötzlich lief es für Siemerink, waren auch gestandene Klasseleute der zweiten Garnitur (Bruguera, Tscherkassow) kein Problem mehr. „Ich kann jetzt gegen Topfünfziger bestehen“, erkannte der Homo novus, den keiner kannte. Selbst Dauerzuschauer hatten Siemerink im ganzen Turnierverlauf nicht spielen sehen. Wenn er antrat, schien stets die Zeit gekommen, in den VIP- oder Presseraum zu verschwinden.

Am Samstag wollten ihn dann alle sehen. Am liebsten als Sieger. Und Edberg schaute dann auch recht oft erstaunt, wenn ein Siemerinkscher Aufschlag mal wieder an ihm vorbeigerast war. Zweimal 6:4 hieß es am Ende und mancher argwöhnte, ein Doppelfehlerchen im ersten Satz sei an der Niederlage schuld. So war es natürlich nicht.

Edberg erklärte den Unterschied: „Er ist die Nummer 90 oder so, und ich bin die Nummer eins.“ Und als solcher machte „Eddie“ standesgemäß die Punkte, auf die es ankam, die „big points“.

Immerhin ist Siemerink die Nummer 98 los, es geht um etwa 50 Plätzchen nach oben und auf sein Konto fließen 42.430 amerikanische Dollars. Nicht schlecht für einen, der bis dato in eineinhalb Jahren nur insgesamt 70.000 zusammengeschmettert hat. Drum strahlte der Blonde auch mächtig, nahm die Niederlage als das, was sie war: unvermeidlich. „Wenigstens nicht 0:6, 0:6 — das ist doch gut für mich“, kommentierte er und will jetzt erst mal seinen Platz unter den besten hundert Tennisspielern absichern.

Ist mehr in Sicht? Der weise Edberg dämpfte gleich: „Im Moment sieht es gut für ihn aus, aber es können auch wieder schwierige Zeiten kommen.“ Will heißen: Zwei, drei Spiele weiter, und es kann wieder die Qualifikation sein, die trostlose.

Während sich also Stefan Edberg zum Endspiel rüstete, raste der Neo- Star ans Telefon, um eine Radiostation anzurufen. Er versuchte dann einen Flug nach Hause zu bekommen, was überflüssig wurde, weil die Eltern ob des freudigen Ereignisses überraschend nach Stuttgart geeilt waren. Er gab viele Interviews und dachte an Schonung des mehr als erwartet strapazierten linken Armes. Rotterdam wartet bereits und mithin die Klärung der Frage, ob Jan Siemerink mehr ist, als ein Held für einen Tag.

Ergebnisse, Halbfinale: Edberg — Siemerink 6:4, 6:4; Svensson (Schweden) — Forget (Frankreich) 2:6, 7:6, 6:2.