Die Versuchung des Stasi-Mitarbeiters Pfarrer „Carl“

■ Der Leipziger Pfarrer Berger wird von der Staatssicherheit als „Inoffizieller Mitarbeiter“ seit 1978 geführt — auf Grundlage humanistischer Auffassungen/ Durch seine Stasi-Kontakte wollte er „Menschen helfen“/ Am Sonntag Invokavit predigte Berger über die Versuchung Jesu

„Der IM arbeitet auf der Grundlage humanistischer Auffassungen mit dem MfS zusammen“, vermerkt der Auskunftsbericht bei der Stasi über Pfarrer Matthias Berger. Datum der Anwerbung: 1978. Paßbild. Das MfS-Dossier lobt seinen „Inoffiziellen Mitarbeiter Carl“ als „zuverlässig und ehrlich“. Am Sonntag Invokavit vor einer Woche hatte das lutherische Kirchenjahr für den Pfarrer einen heiklen Predigttext: Die Versuchung Jesu, Matthäus 4,1-11. Der Teufel nähert sich dem Herrn dreimal und versucht ihn mit Verlockungen von der unbedingten Treue zu Gott abzubringen.

In der kleinen Kapelle des Salomonstift, dem Kirchenraum der Thonberg-Gemeinde, versammeln sich um 9.30 Uhr genau 16 Menschen im Rentenalter. Der Pfarrer, der über zwölf Jahre der Staatssicherheit zu Diensten war, predigt über die „Grauzone zwischen Gott und den Versuchungen unseres Lebens“, über die „dunkle Vergangenheit des eigenen Ich“. Auf die „kleinen Bösewichte“, die „Schattenseiten im Leben andrer“ sei leicht mit dem Finger zeigen, es gehe dem Evangelisten aber um „unser zweites Ich“. Er spricht frei. „In uns steckt immer noch das Dunkle“, redet er seiner Gemeinde ins Gewissen, „wie oft wollen wir Gott eigentlich noch versuchen mit falscher Sicherheit?“

Versuch eines Gesprächs mit dem Pfarrer

Hat der Pfarrer, geboren nach der Stasi-Akte am 8.Juli 1942 in Stettin, bei der Predigt auch an sich selbst gedacht? „Natürlich!“ sagt Berger nach der Predigt, auf das heikle Thema angesprochen. Aber das meint er nur allgemein, jeder ist eben angesprochen. Seine Kontakte mit der Stasi haben sich „gelohnt“, sagt Pfarrer Berger auch heute noch. Er war Vorsitzender des Synodalausschusses in Leipzig gewesen, in dem Gremium koordinierten sich gesellschaftlich engagierte Kirchengruppen, eben auch die Arbeitskreise der Opposition.

Diejenigen, über die er der Stasi berichtet hat, haben es von ihm selbst nie erfahren. Auch nach der Wende hat er nie mit ihnen darüber gesprochen, überhaupt hat er nicht mehr mit ihnen gesprochen. „Mit der Wende hat sich meine Arbeit erledigt“, sagt der Pfarrer. Das Kapitel sei für ihn „abgeschlossen“ und: „Meine Person ist völlig uninteressant dabei.“ Er habe sich „in diese Grauzone hineinbegeben“ aus kirchlichem Engagement, „um Menschen zu helfen“. Immer und immer wieder findet der Pfarrer zu diesen humanistischen Motiven, die die Akte vermerkt: „Ich begebe mich in dieses Risiko ahinein, wenn ich dafür Menschen das Leben erleichtern kann.“ Wann das angefangen hat, und über was er geredet hat? Da will Berger von sich aus nicht konkret werden.

Das Gespräch mit dem Pfarrer ist schwierig. Er windet sich aus Fragen heraus, räumt nur das ein, was ihm aus Akten vorgehalten werden kann, und das war dann wiederum ganz selbstverständlich. Warum hat der Pfarrer sich seiner Kirche nicht anvertraut über seine Kontakte? „Man kennt die Spielregeln“, deutet er an. „Dekonspiration“ nennt die Stasi das, wenn einer ihrer Inoffiziellen Mitarbeiter sich anderen gegenüber zu erkennen gibt.

Berger wird nicht als einfacher IM, sondern als „IMB“ geführt. IMB sind besondere IMs, die „unmittelbar und direkt an feindlich tätigen Personen... arbeiten, deren Vertrauen besitzen“. Ihre Aufgabe unter anderem: „Durchführung operativer Spiele, Maßnahmen zur Desinformation, Zersetzung und Zerschlagung. (Richtlinie des MfS 0008-1/79) Voraussetzung zur Weiterentwicklung eines IM zum IMB sind u.a. „in der politisch-operativen Arbeit bewiesene charakterliche und politisch-moralische Eigenschaften wie Mut, Standhaftigkeit gegenüber feindlichen Einflüssen, ...Treue und feste Verbindung an das MfS...“ IMBs müssen „sich unauffällig ins Blickfeld der zu bearbeitenden Personen bringen, zu ihnen Kontakt herstellen und ihr Vertrauen erwerben“.

Sie müssen die „Arbeit mit operativen Legenden“ beherrschen und sind geschult auf die „richtige Reaktion auf Überprüfungsmaßnahmen des Feindes“.

Pfarrer Berger selbst leugnet generell, der Stasi über die politischen Gruppen berichtet zu haben. Ihm sei es nur darum gegangen, zu vermitteln, wenn die engagierten jungen Leute eine „politische Überreaktion“ planten, „weit übers Ziel hinausschossen“. Zum Beispiel? „Plakataktionen, Öffentlichkeitsarbeit.“ Wenn ihm, dem Pfarrer, von der Stasi angedeutet wurde: „Hier ist die Schmerzgrenze erreicht“, sagt er, dann gab er solche Warnungen als „Brücke“ weiter. Eben eine Methode der „Zurückdrängung negativer und feindlicher Erscheinungen“.

Die Stasi war über die internen Vorgänge der kirchlichen Oppositionsgruppen immer bestens informiert. Gab es andere IMs? Berger reagiert auf die Frage geradezu erleichtert: „Natürlich. Die Informationen lagen vor, deswegen brauchten die auch nicht an Amtsträger heranzutreten wegen Informationen.“ Eine Ausflucht jagt die andere. Hat der Pfarrer mit seinen ehemaligen Freunden nach der Wende sich ausgesprochen, etwa über die anderen IMs? Nein, „mich geht es nichts an, was andere gemacht haben“, wehrt er ab. Und stellt gleichzeitig fest: „Ein Außenstehender kann das gar nicht beurteilen.“

Stasi-Verdacht gegen Berger seit 1980

In der Akte Berger steht: „Bereits vor seiner Verpflichtung zur ständigen Mitarbeit (1978, d.Red.) mit dem MfS unterstützte der IM unser Organ, indem er umfangreiche kircheninterne Materialien (...), die nur wenigen kirchenleitenden Persönlichkeiten zugänglich waren, dem Mitarbeiter des MfS übergab.“ Johannes Riedel, vierzig Jahre lang Lehrer und heute Rentner, 1978 bis 1984 Vorsitzender des Kirchenvorstandes in Leipzig-Schönefeld: „Ich habe Berger 1980 der Stasi-Zusammenarbeit verdächtigt.“ Damals drängten einige ältere Gemeindemitglieder, man solle Berger die freie Pfarrstelle in Schönefeld anbieten. Großvater Bergers war dort auch Pfarrer gewesen. In einer Sitzung des Kirchenvorstands äußerte Riedel 1980 seinen Stasi-Verdacht. Alle verstanden, denn Berger brüstete sich mit Westreisen, die für Leute „ohne Kontakte“ kaum möglich waren. Zwei Tage später wußte Berger von den vertraulichen Sitzung, zitierte Riedel zu sich und drohte ihm mit einer Verleumdungsklage. Der konnte seine Quellen damals nicht offenlegen und versprach, mit niemandem mehr darüber zu reden. Johannes Riedel ist ein frommer Mann und hielt sein Versprechen, bis er nach der Wende die Akten sah. Dort steht: „Der IMB Carl reiste seit 1978 jährlich im Auftrag des MfS ins Operationsgebiet“, sprich: in die BRD. „Diese Reisen dienten der der Erarbeitung operativ bedeutsamer Informationen zur Frage der Paten- und Partnerschaftsbeziehungen der Kirchen der EKD...“

Nach den Akten hat der Herr Pfarrer die Staatssicherheit systematisch über die kirchliche Oppositionsgruppen informiert. In der „Operativinformation 189/84“ etwa vom Oktober 1984 berichtet er über Bestrebungen, eine Frauengruppe innerhalb der Kiche zu gründen. Im November 1984 „informierte der IMB Carl, daß der vorgesehene Abend Frauen für den Frieden am 16.11. 1984 aus nicht bekannten Gründen ausfällt“. Und so weiter. Aus den Akten geht auch hervor, daß „Carl“ ein ganz wichtiger Informant war. Weil die staatliche Seite bei einem Gespräch so überraschend gut über „Veranstaltungen im innerkirchlichen Bereich“ informiert war, sei der Superintendenten „überzeugt, daß im Kreise der Pfarrerschaft ein ,Informant' der Staatssicherheit“ sei, faßt Stasi-Oberst Norbert Schmidt den mündlichen Bericht des IMB Carl zusammen. Die Kirche habe „Maßnahmen zur Ermittlung der undichten Stelle aufgenommen“. Oberst Schmidt will die Quelle schützen: „Entsprechende Maßnahmen zur Wahrung der Konspiration des IMB Carl wurden getroffen.“

Nach dem Plan der Staatssicherheit im Bezirk Leipzig für 1989 ist „Carl“ auf den Jugendpfarrer Kaden angesetzt, der sich um Übersiedlungsersuchende kümmert. Ziel ist die „Einflußnahme auf kirchliche Amtsträger“ und die „innerkirchliche Disziplinierung des K.“. „Hebe Dich hinweg, Satan“, habe Jesus den Versucher angefahren, predigte Pfarrer Berger vor einer Woche seiner Gemeinde. Im Leben müsse man eben „Grenzen ziehen, die man nicht überschreiten soll“. Es sei aber nicht immer einfach, „die Grauzonen sind größer, als wir sie einschätzen“.