Eine einzigartige Solidaritätsaktion für die Juden

Zum 50.Jahrestag des „Februaraufstands“ versammeln sich heute in Amsterdam Zehntausende am Dockerdenkmal/ 20.000 Arbeiter streikten am 25.Februar 1941 gegen die Ghettoisierung und Deportation ihrer jüdischen Mitbürger  ■ Von Jos Scheren

Wenn am heutigen 25.Februar in Amsterdam Zehntausende schweigend zum Dockerdenkmal pilgern und Kränze niederlegen, gedenken sie zusammen mit den Überlebenden der Nazizeit der ersten Opfer der Judenverfolgung in den Niederlanden unter deutscher Besatzung: des 50.Jahrestages des „Februaraufstands“. Zwei Tage lang herrschte 1941 in der ansonsten befriedeten Hauptstadt der Ausnahmezustand: 20.000 Rüstungs- und Hafenarbeiter sowie Teile des Öffentlichen Dienstes traten in den Ausstand und legten Produktion und Verkehr Amsterdams und Umgebung lahm, um gegen die Deportation ihrer jüdischen Mitbürger zu protestieren.

Schon in den Wochen davor hatte es Anzeichen für eine geplante „Judenaktion“ gegeben; Reichskommissar Seyss-Inquart hatte den Bürgermeister aufgefordert, Kommunisten und Juden aus dem Stadtparlament entfernen und alle jüdischen Einwohner systematisch registrieren zu lassen. Die Ergebnisse konnte die kommunale Erfassungsbehörde bereits am 29.Januar vorlegen. Alle 140.000 Juden der Niederlande — 80.000 von ihnen lebten in Amsterdam — waren bis Anfang Februar namentlich erfaßt, aus ihren Ämtern entfernt und aus der niederländischen Gesellschaft ausgesondert. Die Judenviertel der niederländischen Städte, darunter der Amsterdamer „Jordaan“, wurden systematisch abgeriegelt, 40.000 Juden ghettoisiert.

Als es am 11.Februar im alten Judenviertel nach einem Aufmarsch niederländischer Faschisten zu einer Massenschlägerei kommt, bei der ein SS-Mann getötet wird, schlagen die Besatzer brutal zurück. Am 22. Februar — es ist ein Samstag und damit Sabbath im „Jordaan“ — führen sie eine großangelegte Razzia durch. 400 Juden werden umgehend nach Mauthausen verschleppt. Die Stadt ist von der Aktion völlig überrascht. Am ersten Arbeitstag nach dem Wochenende bleibt es ruhig. Auf Initiative zweier Kommunisten, Angestellter bei der Stadtreinigung, weigern sich am Morgen des 25.Februar die Straßenbahnfahrer mit Unterstützung von Kollegen aus anderen städtischen Betrieben auszufahren.

Die Arbeitsverweigerung der Straßenbahner soll das Signal für einen umfassenden Generalstreik sein. Ein große Anzahl städtischer Betriebe ist bis 10 Uhr tatsächlich vollständig lahmgelegt. Soweit doch noch einige Wagen unterwegs sind, werden sie von wütenden Hafenarbeitern, die sich mittlerweile dem Streik angeschlossen haben, aus den Schienen gekippt. Um 11 Uhr fährt kein einziger Wagen mehr und haben sich Schiffsbau- und Metallarbeiter dem Streik angeschlossen. Der erste Massenstreik gegen die Judenverfolgung ist in vollem Gange.

Für die Besatzungsbehörden und die Amsterdamer Stadtväter kommt der Streik völlig unerwartet. Erst am Nachmittag erkennt das Reichskommissariat die Tragweite des Protests. Zwar versuchen die niederländischen Behörden alles erdenkliche, um den Streik zu brechen; unter anderem drohen sie den Aufständischen mit Entlassung. Es bleibt aber Gestapo und Grüner Polizei vorbehalten, in Amsterdam die öffentliche Ordnung mit Waffengewalt wiederherzustellen.

Am Abend des 25. sind die Straßen Amsterdams menschenleer. Die Nazis haben eine Ausgangssperre verhängt. Am nächsten Morgen wird das Gebäude der Stadtreinigung mit Maschinengewehrfeuer unter Beschuß genommen, werden Straßenbahnen mit Schutztruppen bemannt auf die Schienen geschickt. Mit erbarmungsloser Härte geht die Grüne Polizei gegen die bis zuletzt ausharrenden Metallarbeiter vor. Tausende Männer werden verhaftet und wenig später nach Osten deportiert — zum Arbeitsdienst in der deutschen Rüstungsindustrie.

50 Jahre „februaristaking“. Wie bedeutungsvoll der Aufstand selbst auch gewesen sein mag — in der historischen Rückbetrachtung ist die Gedenkveranstaltung am Dockerdenkmal — an der wie jedes Jahr auch viele Überlebende der Konzentrationslager teilnehmen werden und sich angesichts der derzeitigen Bedrohung Israels der Sympathie der Niederländer gewiß sein können — zur Beute des professionellen Nachkriegs-Antifaschismus in den Niederlanden geworden. Es handelte sich um einen Streik, der nur durch eine Mischung aus List, Zufall, Planung, Geistesgegenwart, Glück, Mitleid mit den Juden, Abenteuersucht und der anfänglichen Entscheidungsunfähigkeit beim holländischen und deutschen Machtapparat eine solche Verbreitung gefunden hat. Beim jährlichen Gedenken ist der Aufstand zu einer einzigen heldenhaften Geste einer geeinten Amsterdamer Arbeiterschaft erstarrt. Doch so allgemein und heroisch, wie oft dargestellt, war die Beteiligung der Amsterdamer nicht. Vor allem die Behörden der Stadt, die auch beim 50.Jahrestag wieder in vorderster Front demonstrieren werden, haben in den damaligen Kriegstagen alles daran gesetzt, den Streik zu brechen. Der „Februaraufstand“ von Amsterdam war einzigartig in seiner Form; ihn und damit die eigene Rolle zu mythologisieren, dazu hat zumindest das offizielle Holland keine Veranlassung.

Der Autor ist Historiker und lebt in Amsterdam