Der Krieg von Saint-Germain-des-Près

Beobachtungen zum Frontverlauf unter Pariser Intellektuellen  ■ Von Alexander Smoltczyk

Noch zu Napoleons Zeiten sollen die Denker den Eulen der Minerva geähnelt und sich erst auf den Weg gemacht haben, wenn der letzte Krieger ausgeblutet war. Im Zeitalter der Bodybags und Echtzeitattacken per Kathodenstrahl ist das naturgemäß anders. Während die Fremdenlegionäre der „Operation Daguet“ in Stellung gingen und ihre Bajonette aufzogen, bezogen auch die Pariser Intellektuellen ihre Positionen. Bereits im August war die schnelle intellektuelle Eingreiftruppe um Bernard Henri Lévy an die Front marschiert, um mit schnellen chirurgischen Schlägen gegen den „Geist von München“ anzugehen. „Heute bevorzugen wir Pazifisten den Krieg gegenüber der arabischen Falle und die Ehre der Ehrlosigkeit, was es auch koste“, so der Schlachtruf von Pierre Bergé, dem Direktor der Bastille-Oper und Stammvater von „SOS-Racisme“. „Aux armes, citoyens“, schallte es durch die Cafés und Verlagshäuser von Saint Germain. Lévy konstatierte diskursive Ähnlichkeiten zwischen gaullistischen, faschistischen und kommunistischen Antiamerikanern, Roland Topor meldete, lieber in New York als in Bagdad leben zu wollen und André Glucksmann, der Veteran gar mancher ideologischer Schlacht, zeichnete die französischen Legionäre im Wüstensand mit dem Orden „wahre Pazifisten“ aus. Saint Germain stand fest zur Fahne: „Seit dem Juli 1914 hat man keinen solchen Enthusiasmus beobachten können“, notierte Max Gallo im August.

Natürlich gab es da symbolische Schläge gegen diese Front des Konsenses, ausgeführt von einigen Guerrilleros des Geistes wie dem mannhaften Paul Virilio, Felix Guattari und Gilles Deleuzes „dreckigen Krieg“, als „Staatsterrorismus, um Waffen auszuprobieren“. Aber die Äußerungen waren ungefähr ebenso effizient wie die Scuds von Saddam. Die großen Feldherren schwiegen still. Dann wurde es ernst. Für einige Stunden brach dank Peter Arnett eine Realität in die Denkerstuben ein: Im Vakuum zwischen monatelanger präventiver Simulation des Krieges und dem nachrollenden Donner der Informationsillusion der Medien entstand ein Bewußtseinsschock, der die Intellektuellen zur Feder greifen ließ.

Erste Feststellung: Wie bereits bei der letzten großen Intello-Auseinandersetzung, dem Streit, ob islamische Schülerinnen in einer republikanischen Schule ein Kopftuch tragen dürfen oder nicht, funktionieren die Freund-Feind-Erkennungsmechanismen nicht mehr wie noch zu Sartres Zeiten. Die antikolonialistische Linke etwa, die sich im Widerstand gegen die Indochina- und Algerienkriege gebildet hat, existiert nicht mehr. Sie hat sich in zwei Lager gespalten. Der Soziologe Pierre Bourdieu erklärte am Donnerstag gemeinsam mit Tahar Ben Jelloun, Etienne Balibar und anderen, daß es sich um einen Krieg zweier Imperialismen handele, wobei der US-Imperialismus die Aktion des irakischen Regional-Imperialismus „unter der Hand ermutigt“ habe. Ohne die Annexion Kuwaits zu rechtfertigen (eine konzertierte Aktion auf regionaler oder UNO-Basis hätte „gleichzeitig und ohne Ausnahme“ sämtliche nicht eingehaltenen UN-Resolutionen sanktionieren können), fordern sie einen sofortigen Waffenstillstand, um „die Barbarei“ zu verhindern. Auf diese Gegenoffensive antworteten Jean-Fran¿ois Lyotard, Alain Touraine und Alain Finkielkraut mit dem Manifest „Ein notwendiger Krieg“, ebenfalls am Donnerstag in „Libération“ veröffentlicht. Lyotard und Touraine gehören zu den namhaftesten Wegbegleitern der algerischen Revolution. Jetzt aber erklärten sie: „Menschen-, Bürger- und Völkerrechte bleiben ohnmächtige Abstraktionen, wenn sie sich nicht in das politische Terrain einschreiben, in ein Projekt und eine Aktion, die ihnen Bestand und Respekt verschaffen, im Notfall durch Gewalt.“ Gerade im Interesse der Verdammten dieser Erde müsse der irakische Expansionismus gestoppt werden. Eine denkerische Strategie, die auch von anderen Antikolonialisten geteilt wird. Pierre Vidal-Naquet, der große Ankläger der folternden IV. Republik, Jean Lacouture, Jean Daniel vom „Nouvel Observateur“ und der linke Nahostgeschichtler Maxime Rodinson haben den Krieg für legitim erklärt — mit der Habermas-Clausewitzschen Einschränkung allerdings, wonach aus dem UNO-Mandat nicht die Zerstörung der irakischen Nation abgeleitet werden könne.

Zweite Feststellung: Während die Denker der BRD vor allem mit sich selbst beschäftigt sind („Sollen wir dürfen? Oder müssen wir sollen?“), steht für Frankreichs Intellektuelle das Verhältnis zum anderen, konkret: zum Orient, im Zentrum des Denkens. Wie universell sind Kategorien des Rechts, so lautet die Frage. Wiederum konkreter: Inwieweit muß das Recht auf Anderssein in der arabischen Welt eingeschränkt werden, wenn es auf 40 Prozent der Weltölreserven und in 250 Kilometer Entfernung von Israel ausgeübt wird? Wie kürzlich eine Debatte in der sozialwissenschaftlichen Hochschule EHESS zeigte, kann diese Frage in einem Land, das seine jüdischen Intellektuellen nicht ausgerottet und die arabischen seit jeher aufgenommen hat, nur schwerlich gemäß den Regeln Frankfurter Kommunikationstheorie geführt werden: Die Veranstaltung offenbarte, so der Berichterstatter von „Le Monde“, „einen schwer zu überwindenden Graben“ zwischen laizistischen Denkern des Westens und Vertretern der arabischen Welt.

Besonders stark vermint zu sein scheint in dieser Frage das Gebiet zwischen „College de France“ und der EHESS, wo Touraine, Vidal-Naquet und die Historiker der „Annalen“ den Ton angeben. Über dem College de France, diesem Heiligtum französischen Geistes, weht seit Lévi-Strauss die Fahne des Kulturrelativismus. Hier hat sich neben Pierre Bourdieu der große alte Mann der Orientalistik eingebunkert: Jacques Berque, Koranübersetzer und Mitglied der Akademie in Kairo. Wenn sich Frankreich in der Golfregion daran beteiligt, „eine angelsächsische Hegemonie zu etablieren“, wie er bitter schrieb, dann ist auch sein Lebenswerk bedroht — der Versuch, Frankreich in einen Dialog von gleich zu gleich mit der arabischen Welt hineinzuführen. Berque versucht, die Spezifizität der politischen Kultur in arabischen Ländern zu erklären, und er weigert sich etwa prinzipiell, ein Land der Dritten Welt als imperialistisch zu bezeichnen: „Der Irak ist eine Regionalmacht, die versucht hat, Rechte auf ein Gebiet durchzusetzen, das seit der ottomanischen Zeit umstritten ist.“ Alain Touraines Antwort darauf: „Wer den gegenwärtigen Konflikt als Auseinandersetzung zwischen Islam und Christentum definiert, zwischen Arabern und dem Okzident, zwischen Ost und West, der übernimmt, bewußt oder nicht, die Sprache der neuen Diktaturen, die in Frankreich auch von der Front National (verwendet) wird.“

Dritte Feststellung: Das Jahr „1989“ ist vorbei. Jenes Jubeljahr, wo die Bicentenaire-Feier bruchlos in die Bürgerrechtsrevolutionen im Osten überging und sich das „Volk der Linken“ geschlossen hinter seinem Präsidenten scharte, wo die Welt aus neuen Universalismen zu bestehen schien, aus „Europa“, „Menschenrecht“ und „Vaclav Havel“. Der europa-skeptische Jakobinerflügel der Linken hat sich vom Mitterrand-Konsens deutlich emanzipiert, ja er macht als fünfte Kolonne im Lager der „Linken“ gemeinsame Sache mit den Altgaullisten und Kommunisten. Nicht allein, daß der Verteidigungsminister Jean- Pierre Chevenement mitten im Krieg von der Fahne ging und seither Grabenkämpfe gegen den „Hegemoniewillen der Vereinigten Staaten“ führt. Nein, auch Regis Debray, der einzige Pariser Denker mit Buschkriegserfahrung, ein Poet der republikanischen Tugenden, der noch vor kurzem darüber klagte, daß keiner mehr für die Republik sterben wolle — auch er streitet diesmal auf der Seite der Kriegsgegner, gerade weil er noch als Mitterrand-Berater die nukleare Force de Frappe besungen hat: „Ich weigere mich, die Geopolitik Europas, die eine Kultur der Zeit ist, derjenigen Nordamerikas unterzuordnen, die eine des Raumes ist“, schrieb er im „Nouvel Obs'“. Unter Mitterrand sei das stolze Frankreich dabei, zum Erfüllungsgehilfen der USA zu werden: „Wir sind nach Disneyland zurückgekehrt, und unsere Armee steht unter amerikanischem Kommando“, klagte er und ließ keinen Zweifel daran, daß solches unter Charles de Gaulle nicht passiert wäre.

So weit die Meldungen von der Denkerfront. Noch ist der Krieg nicht zu Ende, und es wird noch viel Gelegenheit geben zu Scheinattacken, Grabenkämpfen, Feuilletonscharmützeln und ähnlichem. Die Fronten sind erst unklar zu erkennen — vielleicht gibt es sie auch gar nicht. Bei viel heißer Luft kommt es zu Spiegelungen. Das ist in Saint Germain nicht anders als in Chafdschi.