DERMADENUNDLIEBESKUMMER-TIP  ■  BOSS HOG

Späte Nacht dunkelt durch die Großstadtstraßen, Tauwetter kriecht in die Kniescheiben. Die Kneipen sind spärlich besetzt, Kellnerinnen malen sich die Augen nach zum allerletzten Absacker. Betrunkene wickeln sich um die seltenen Laternen, haste mal ne Mark, verbogene Einzelteile längst verrotteter Fahrräder säumen Bordsteinkanten. Die uralte Wette mit dir selbst läuft — noch eine einzige, die-letzte-auf-der-Straße-und-einmal-um-die-Ecke-rum-Kneipe und du gehst wirklich nach Hause, ein Schnaps/ein Bier und eins zum Mitnehmen, bevor du in die allnächtlichen Komaalbträume fällst. Du machts die Tür auf, dramatischer Auftritt mit finsterem Blick, irgendein Typ schaut dich von der Seite an — es zählt schon nicht mehr, dies ist wiedermal nur eine von den Nächten, in denen die Kneipen mit dir machen, was sie für richtig halten. Ein Schnaps/ein Bier und du gehst mit ihm, noch eins zum Mitnehmen in der Jackentasche. Morgens dann kalter Kaffee, dein getrübter Blick fällt auf ein sternchenübersätes Plakat, eine mit Lacklederstiefeln bekleidete lüstern dreinschauende Schwarzhaarige verbirgt ihre üppigen Reize hinter Balken und jemand brüllt dich an »I love you I love you«. Dir kann nichts mehr passieren, außer daß du, solltest du jemals wieder aufstehen und dieses Zimmer verlassen, umgebracht wirst — oder daß sich der schleichende Verdacht bestätigt, ausgerechnet bei einem von Boss Hog gelandet zu sein.

Boss Hog — das kommt dabei raus, wenn man — jeweils zu kleinen Teilen — Pussy Galore, Big Black, Unsane und die Honeymoon Killers zusammen in ein Studio steckt und das Ergebnis, eine LP von acht Stücken, bei Amphetamine Records erscheinen läßt. Boss Hog — das ist No-Sound, dreckig und konsequent. Boss Hog — das ist traurige New York-Symphonie in Moll.

Boss Hog — das sind Christina und Jonathan Spencer, die schon auf ihrer ersten LP »Drinkin', Lechin' & Lyin'« bewiesen, daß sie zu weit mehr in der Lage sind als zum blutrünstigen Tieftönerkillertum von Pussy Galore. Auf diesem Debütalbum experimentieren sie mit leisen, bluesigen Phrasen, die sie auf der aktuellen LP »Cold Hands« weiter fortsetzen und in »Bug Purr«, dem tiefsinnigsten und tiefsten Stück der Platte perfektionieren: ein angeschlagener Basston, darauf verirren sich leicht vibrierende, in absolutem Minimalismus gehaltene, permanent brechende Gitarren- und Vokalgeräusche, nicht mehr als Harmonien oder gar Melodien erkennbar.

Sie erzeugen die Überversion des Stumpfblues, absolut nichts bewegt sich mehr bis auf kränkelnde Boxen, die leise durchs Zimmer wandern, Magenwände, sie sich rhythmisch zusammenziehen und WG-Freunde, die sich mit gequälten Blicken von dir abwenden und dich die Miete fürderhin allein zahlen lassen. Abgelöst wird dieser sumpfige Stillstand von einer kreischenden Christina im Duell mit einem sich überschlagenden Saxophon, tapfer gegen die wütende Rhythmusgruppe ankämpfend und -spuckend. Die Maden im Gesicht und den Liebeskummer im Herzen — das ist Boss Hog.

Boss Hog — das ist Sex und Sexismus und Krankheit und Leid und Musik und Wut und Krach und immer wieder Blues. Boss Hog — das ist das Konzert des Abends. Erika

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