Verfassungsklage als „Drohgebärde“ gen Bonn

Ostdeutsches Wohnungsunternehmen klagt gegen Mietpreisbindung/„Notwehr“ gegen gefährlichen Subventionspoker zwischen Bund und Ländern  ■ Von Irina Grabowski

Potsdam (taz) — Wiedermal steht eine Verfassungsklage gegen Regelungen im Einigungsvertrag ins Haus. Diesmal sind die Wohnungsunternehmen — ehemals KWV und AWG — der neuen Bundesländer und Berlins am Drücker. Anfang des Jahres hatte Finanzminister Waigel die Subventionen für die Wohnungswirtschaft im Osten gestrichen. 1990 waren 18 Milliarden Mark in die neuen Bundesländer geflossen.

Auch die Wohnungsgenossenschaft in der brandenburgischen Stadt Henningsdorf ist auf diese Zuwendungen angewiesen. Für die Bewirtschaftung ihrer rund 4.500 Wohnungen benötigt sie jährlich 20 Millionen Mark. Davon können nur drei Millionen durch Mieten eingespielt werden. Der „Rest“ ist bisher aus dem Bundeshaushalt zugeschossen worden. Jetzt steht die Henningsdorfer Genossenschaft vor der Zahlungsunfähigkeit. Mit den Lieferanten von Fernwärme und der Müllabfuhr wird um die Stundung der fälligen Zahlungen gefeilscht.

Neun Millionen Mark müßten pro Jahr allein für die Betriebskosten aufgebracht werden. Bei fernbeheizten Neubauwohnungen schlagen diese monatlich mit 4,71 DM pro Quadratmeter zu Buche — fast dreimal soviel wie in den Altbundesländern.

Schon vor der Wende, so Hartmut Schenk vom Vorstand der Henningsdorfer Genossenschaft, sei mit Thermofotografien die „lückenhafte“ Wärmedämmung als Ursache der enormen Energieverschwendung nachgewiesen worden. Erfolglos habe man sich gegen die Übernahme fehlerhafter Wohnungen gewehrt. Doch die Baukombinate konnten immer wieder das legendäre Wohnungsbauprogramm vorschieben, das auf Biegen und Brechen erfüllt werden mußte.

Selbst wenn die geplanten Verordnungen zur Umlage der Betriebskosten, Instandsetzung, Warmwasser und Heizung (ab 1.10.1991) und die Erhöhung der Kaltmieten um 1DM pro Quadratmeter (ab 1.1.92) greifen, bliebe ein Bewirtschaftungsdefizit von rund 80 Mark pro Wohnung und Monat. „Um alle Kosten zu decken, müßten wir die Mieten um das 6,5fache hochtreiben“, rechnet Schenk vor. Solche Preise würden in Henningsdorf, wo zwei Großbetriebe von 17 000 Beschäftigte auf 6000 abspecken müssen, und damit die für den Sommer die angekündigte Arbeitslosigkeit von 50Prozent locker überboten wird, die soziale Schmerzgrenze sprengen. Doch da ist der Einigungsvertrag vor: Seine Unterhändler haben die alten Preisverordnungen der DDR und damit eine monatliche Miete von 80 Pfennigen bis zu einer Mark pro Quadratmeter über die Einheit gerettet. Genau gegen diese Regelung will die Henningsdorfer Genossenschaft, unterstützt vom Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen, vor dem Verfassungsgericht in Karlsruhe Beschwerde einlegen.

Es gehe nicht darum, erläutert der Justitiar des Verbandes Klaus Riebschläger, die Mietpreisbindung ersatzlos zu streichen und dem Mietwucher freien Lauf zu lassen. Aber die Wohnungsgesellschaften im Osten, die sich selbst dem sozial verträglichen Wohnen verpflichtet haben, müßten sich dagegen wehren, im Poker zwischen Altbundesländern und Bundesregierung zerrieben zu werden. Letztere hatte mit der Einstellung der Ausgleichszahlung zum 31.12.1990 deutlich gemacht, daß der Streit, ob Alt-Bundesländer oder Bund für dieses „beitrittsbedingte“ Problem finanziell aufkommen müssen, noch lange nicht beendet ist. Nach der Verfassungsordnung in der alten und nun auch neuen Bundesrepublik sind die Angelegenheiten der Wohnungswirtschaft bei den Ländern angesiedelt. Aber Brandenburgs Finanzminister Kühbacher weiß erst im Juni, ob überhaupt die Wohnungswirtschaft im Etat bedacht werden kann. Leistungsklagen an diese Addresse sind für die Wohnungsunternehmen reichlich sinnlos. Die Rechnung aber hat noch mehrer Unbekannte. Die Henningsdorfer Genossenschaft zum Beispiel hat von der Kommune noch keinen Meter Boden übertragen bekommen. Die Bewertung des Wohnraums steht aus. Alles ist in der Schwebe: Reicht die Substanz der Genossenschaft zum Überleben, auch wenn laufende Kosten nicht beglichen werden, oder muß sie Grundstücke abstoßen, von denen bisher nicht bekannt ist, ob ihr die überhaupt zustehen?

Durch die Verfassungsklage soll die Bundesregierung gezwungen werden, neue Regelungen für die Finanzierung der Wohnungswirtschaft anzubieten. Subventionen im Bundeshaushalt, die möglicherweise heute auf der Beratung zwischen den Ministerpräsidenten Ost und dem Bundeskanzler ausgehandelt werden, seien nicht ausreichend. Im vergangenen Jahr haben sich in einigen Fällen erst andere Ämter aus dem Geldtopf bedient, bevor die Wohnungsunternehmen zum Zuge kamen. Riebschläger denkt an gesetzlich geregelte kontinuierliche Zahlungen, die die Wohnungswirtschaft vor dem Niedergang retten sollen. Wenn die Verfassungsklage Erfolg hat, so räumt er ein, habe man keinen Einfluß darauf, für welche Regelung sich der Gesetzgeber entscheidet. Aber soweit müsse es nicht kommen. Die „Drohgebärde“ sei unmißverständlich und würde, da ist sich Riebschläger sicher, den Politikern bei diesem sozial brisanten Problem ausreichen.