Arbeitskampf in der „Heldenstadt“ Leipzig

■ Proteste im Osten landesweit/ Erste große organisierte Gewerkschaftsaktion in Leipzig nach der Wende

Leipzig (taz) — Mit Warnstreiks, Protestkundgebungen und Blockaden haben auch gestern mehrere zehntausend Menschen höhere Tarife und soziale Sicherheit eingefordert. In Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg traten Beschäftigte verschiedener Betriebe in Warnstreiks, um die Forderungen der IG Metall bei den laufenden Tarifverhandlungen zu unterstützen. In Berlin und Rostock kam es nach Mitteilung der Gewerkschaft auch zu Straßenblockaden. In Erfurt besetzten Beschäftigte der Firma ermic GmbH ihren Betrieb (siehe Nachricht). In Leipzig hatte bereits am Mittwoch die ÖTV eine Großkundgebung auf dem Platz vor der Großen Oper organisiert, auf der über 10.000 GewerkschafterInnen ihren Unmut über die wirtschaftliche Misere im Osten Deutschlands zum Ausdruck brachten. Sonderbusse und -züge brachten die Gewerkschafter nach Leipzig; Suppen und Säfte gab es gratis, die Organisation war perfekt, die Atmosphäre gespannt. Alle RednerInnen waren sich einig im Grundtenor. ÖTV-Vorsitzende Monika Wulf-Mathies warf der Bundesregierung vor, kostbare Zeit durch politische Hochstapelei vergeudet zu haben. Vielmehr sei jetzt ein Pakt der sozialen Verantwortung mit Vertretern von Bund, Ländern und Kommunen, Unternehmen und Gewerkschaftern zu schließen. Bei den Tarifverhandlungen geht es um zwei Drittel der Westgehälter für Kollegen im Osten. Danach muß eine schnelle Angleichung der Löhne folgen. Auch Leipzigs Oberbürgermeister Hinrich Lehmann-Grube richtete scharfe Kritik an Bonn. Für Kriege kann in Bonn so schnell Geld lockergemacht werden, während für Friedensaufgaben jede Mark zäh erkämpft werden muß, wetterte er gegen Bonn und erntete Beifall. So machtvoll wie die Kundgebung begonnen hatte, so schnell war sie nach einer Stunde in Auflösung begriffen. Hauptsächlich schlagsatzartig und in Appellen waren bereits allgemein bekannte Probleme ein weiteres Mal benannt worden. Die beiden Hauptredner aus den Alt-Bundesländern sparten andererseits nicht mit Belehrungen solcher Art: „Wer vierzig Jahre unter dem Stalinismus gelitten hat, hat ein Recht auf Solidarität“ (Wulf-Mathies) oder: „Es gab keine Alternative zur schnellen Einheit, da der alte Staat moralisch am Ende war“ (Lehmann-Grube). Das bekam angesichts der jetzt noch weniger rosigen Situation kaum Applaus. Vera Linß