Verelendung in allen sozialen Schichten

■ Sozialer Druck läßt Alkoholismus in Ost-Berlin beängstigend ansteigen/ Trotzdem droht neun von elf Suchtambulanzen eine drastische Kürzung in den nächsten Jahren/ Nur Köpenick und Prenzlauer Berg sollen voll weiter finanziert werden

Berlin. Wenn es um Alkoholismus geht, hängt ein Schleier des Nichtwissens über dem Ostteil unserer Stadt. Noch wissen weder das Bundesgesundheitsamt noch die »Landesstelle Berlin gegen die Suchtgefahren«, noch Suchtberatungsstellen in Ost-Berlin selbst, wie viele BerlinerInnen dort mittlerweile tagtäglich zur Flasche greifen. Eines ist jedoch klar: Den Druck durch zunehmende Arbeitslosigkeit, den plötzlichen Einsturz sozialer Grundfesten und ungewisse Perspektiven müssen immer mehr Menschen mit flüssigem Stoff kompensieren, ihre Ängste mit Alkohol betäuben — und das in einer Stadt, in der der Alkoholverbrauch schon vor der Mauer weit über dem Bundesdurchschnitt (1989: 11,8 Liter reiner Alkohol pro Kopf und Jahr) lag.

Doch trotz dieser beängstigenden Situation sollen die elf bezirklichen Suchtambulanzen Ost-Berlins, die einzigen Einrichtungen dieser Art im Ostteil der Stadt, heruntergefahren werden. Nur die beiden Ambulanzen in Prenzlauer Berg und Köpenick, so der Staatssekretär in der Gesundheitsverwaltung Detlef Orwat gegenüber der taz, können für die nächsten fünf Jahre in vollem Umfang weiter finanziert und somit erhalten werden. Die übrigen neun Suchtambulanzen dagegen dürfen allerhöchstens mit der Bezahlung von drei Personalstellen pro Einrichtung rechnen.

Ein Unding, findet Dagmar Schwarz, Psychologin in der Lichtenberger Fachambulanz für Suchtkranke: »Hier wird ein über Jahre hinweg gewachsenes Netz zerrissen, obwohl es andere Einrichtungen, die nach dem Subsidaritätsprinzip arbeiten, noch gar nicht gibt!« Immerhin wurden die Suchtambulanzen im Jahre 1990 rund 90.000 mal konsultiert, gut 7.500 Patienten wurden langfristig betreut, 600 davon allein in Lichtenberg — »der Stadtbezirk mit der höchsten Quote an Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern«. Fünfundneunzig Prozent der Hilfesuchenden machte hier einen ambulanten Entzug ohne Medikamente und wurde von der Suchtambulanz über zwei Jahre hinweg betreut, die Abbrecherquote lag bei 23 bis 25 Prozent. Fast immer war Alkohol der Suchtauslöser, nur vereinzelt kamen auch Medikamentenabhängige und Eßsüchtige in die Beratungsstelle.

Neben der Therapie machten die drei PsychologInnen und die drei FürsorgerInnen aber auch Drogenprävention in den Schulen des Stadtbezirks: »Dafür haben wir keine müde Mark gesehen, das war reiner Idealismus.« Doch auch für den scheint nun kein Platz mehr zu sein. »Wenn wir jetzt wegrationalisiert werden«, befürchtet Schwarz, »wird sich die Verelendung in allen sozialen Schichten noch mehr verstärken.«

Schon jetzt sei spürbar, daß Alkoholabhängige viel länger zögern als früher, bevor sie sich an die Suchtambulanzen wenden — aus Furcht, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. »Aber immerhin sprechen wir hier ihre Sprache. Wenn sie als Ostler zu uns kommen, wissen sie, daß sie von uns Ostlern verstanden werden.« In westlichen Einrichtungen wie Synanon, die jetzt so langsam auch im Osten Fuß fassen, gäbe es dagegen »andere Wertvorstellungen« und viel höhere Barrieren, »vor allem, wenn sie von ihren Gefühlen reden sollen«. Für viele sei dort der Umgangston zu rauh, die Auseinandersetzungen zu aggressiv.

Gespräche mit Versicherungsträgern wie der Landesanstalt für Arbeit zwecks Finanzierung der Therapien seien durchaus positiv verlaufen, allein potentielle Träger fehlten. Schon deshalb fordern die Suchtambulanzen eigentlich eine Übergangszeit von drei bis fünf Jahren, in denen sie weiter mit staatlichen Mitteln unterstützt werden. Doch dieser Traum ist ausgeträumt. Als mögliche Lösung aus diesem Dilemma schlägt Orwat vor, daß sich die rudimentären Reste aus einzelnen Stadtbezirken zusammentun und gemeinsame Suchtambulanzen bilden: »Drei und drei macht doch schon sechs, damit kann man was auf die Beine stellen.« Dies hänge unter anderem entscheidend von dem Einsatz der jeweiligen Stadträte ab.

Ganz einfach wird das jedoch nicht. »Wir sind schließlich eingespielte Teams«, meint Schwarz, »das macht sich bemerkbar, wenn wir auseinandergerissen werden.« Und noch ein weiteres Unheil sehen die Mitarbeiter der Suchtambulanzen bereits am Horizont aufziehen. Schwarz: »95 Prozent der ehemaligen Ministeriumsangehörigen werden jetzt zu Familientherapeuten umgeschult. Wenn die Beratungsstellen jetzt zerschlagen werden, sind diese Leute wieder unsere Vorgesetzten — und erneut an den Schalthebeln der Macht!« maz