750 Selbsthilfeprojekte vom Rotstift bedroht

■ Plenum der Selbshilfegruppen diskutierte über die drohenden Haushaltskürzungen/ Zuwendungsbescheide des Senats sind bis Ende März befristet/ Kritische Lage auch für Projekte im Ostteil der Stadt/ Noch keine Einigkeit über Gegenstrategien

Berlin. »Soll ich meinen Erzieherinnen schon mal vorbehaltlich kündigen, weil ich nicht weiß, ob ich ihnen im Mai noch ihr Gehalt zahlen kann?« Das war nur eine von vielen Fragen, mit denen sich der einzige Vertreter der Senatsverwaltung für Soziales, der namentlich nicht genannt werden wollte, am Mittwoch abend im Rathaus Schöneberg konfrontiert sah.

Etwa 200 VertreterInnen der unterschiedlichsten Selbsthilfegruppen diskutierten dort den haushaltbedingten drohenden Leistungsabbau für 750 Initiativen, Vereine und freie Träger. 11,5 Prozent des Etats sollen, wie in anderen Ressorts auch, noch in diesem Jahr gekürzt werden. Betroffen wären über Kinder- und Schülerläden, Frauen-, Ausbildungs- und Arbeitslosenprojekte, Selbsthilfegruppen sowie psychosoziale Einrichtungen. Kurzum »ein soziales Netz, das sich in Berlin mühevoll über zehn Jahre aufgebaut hat, und das bundesweit Vorbildcharakter hat«, erregte sich die Moderatorin des Abends, Sabine Bohle. Genaue Zahlen sind von der Senatsverwaltung noch nicht zu bekommen: Der Nachtragshaushalt wird erst im Mai verabschiedet. Auch ist noch nicht bekannt, ob jedes einzelne Projekt 11,5 Prozent einsparen soll, oder ob das Geld umverteilt wird.

Sämtliche Projekte haben im Januar den üblicherweise jährlich ausgestellten Bewilligungsbescheid über die Zuwendung vom Senat erhalten, diesmal allerdings befristet bis Ende März. Die Zukunft ist ungewiß. Die Politiker halten sich äußerst bedeckt. »Sowohl der Gesundheitssenator als auch der zuständige Staatssekretär weigern sich, mit uns zu sprechen«, bedauerte Fritz Kiesinger von der Selbsthilfeorganisation Albatros. »Wie bieten seit Wochen unsere Gesprächsbereitschaft an, sie scheinen an gemeinsamen Lösungen aber wenig interessiert.« Auch der anwesende Vertreter der Senatsverwaltung äußert Unverständnis über die momentane Politik. Der direkte Vorwurf, daß zuwenig Geld zur Verfügung gestellt wird, gehe natürlich nach Bonn. »Aber die Politiker in Berlin machen es sich zu leicht. Um die Frage, wie man mit dem Mangel umgeht, drückt sich jeder.« Übersehen wird nach Ansicht Kiesingers insbesondere, »daß all diese Projekte einen Großteil der sozialpolitischen Infrastruktur der Stadt darstellen und dabei nur zwei Prozent des Gesamtetats ausmachen.« Treffen würden die Kürzungen vor allem kleinere Initiativen. »Wenn von unseren drei Stellen eine wegfällt, können wir den Laden praktisch dichtmachen«, beschrieb eine Frau aus einem Kinderladen die Situation. »Und an Miete und Sachmitteln können wir nicht sparen.«

Kritisch ist die Lage auch für neu entstehende Projekte im Ostteil der Stadt. Nach Aussage von Sabine Bohle »haben wir eher das Gefühl, daß wir gegeneinander ausgespielt werden sollen, als daß dort neue Initiativen unterstützt würden.« Die Erfahrungen von Steffi Schild aus dem »Frieda«-Frauenzentrum in Friedrichshain schienen das zu bestätigen: »Trotz eines immensen Beratungsbedarfs haben wir noch keine Zuwendungen bekommen und arbeiten alle ehrenamtlich. Und die Frauen rennen uns die Tür ein.«

Gleichzeitig bangen die Frauenprojekte im Westteil. Die Arbeitsgemeinschaft »Wildwasser«, die zum Thema sexueller Mißbrauch an Mädchen arbeitet, steht schon jetzt kurz vor dem personellen Kollaps. »In den letzten anderthalb Jahren kommen 50 Prozent mehr Frauen und Mädchen zu uns. Wir vergeben mittlerweile Termine vier Monate im voraus, was für ein konkret bedrohtes Mädchen natürlich die Hölle ist«, so die Wildwasser-Psychologin Rosi Dvorak. »Wir brauchen mehr Mittel und keine Kürzung. Und wer weiß, was passiert, wenn der nächste Bescheid kommt...«

Über die Strategien zur Gegenwehr war sich auch das Plenum noch uneinig. Die Tendenz gehe allerdings dahin, nicht den Generalstreik auszurufen, sondern die inhaltliche Arbeit nach außen zu tragen, formulierte Karin Lücker von den Kinder- und Schülerläden. Geplant sind verstärkte Öffentlichkeitsarbeit, Aktionstage sowie eine »Bettelmeile« auf dem Ku'damm am 19. April. Jeannette Goddar