Die Krankheit als Methode

Zu Irene Disches „Der Doktor braucht ein Heim“  ■ Von Bernhard Robben

Warum sollte ich Ihnen was erzählen? Sie haben es ja doch gleich wieder vergessen. Nein? Woher wollen Sie mit Ihrem kurzen Kurzzeitgedächtnis das denn noch wissen? Wie war gleich das erste Wort? Lesen Sie ruhig noch einmal von vorn, wer so schnell vergißt, für den wird dieser Text immer wieder wie neu sein.

Es gibt noch andere Anzeichen. Jedenfalls für die Krankheit. Aber in diesem Fall, der wie immer kein Fall, sondern ein Text ist, kommt zuerst das Buch. Es ist kurz: ganze 43 Seiten in großen Buchstaben. Ein Büchlein für Leute mit kurzem Atem und einer Erinnerung daran, daß hier irgend etwas nicht stimmt. Aber was war das nur?

Irene Disches Der Doktor braucht ein Heim ist ein Buch über ihren Vater, einen Doktor der Chemie. Er leidet an der Krankheit, und der Leser sieht aus dem Text heraus mit den Augen des Doktors auf die verwirrende Welt. Der Doktor vergißt, was erst vor wenigen Minuten geschah, aber er erinnert sich noch äußerst präzise an länger zurückliegende Ereignisse. An die Kindheit etwa und an seine Schwester Zescha, die noch immer bei ihm ist, als Stimme, als Gedanke, als Spiegelbild, als Frau, die ihm alle Frauen bedeutet und zwischen ihm und allen anderen Frauen ist. Zescha ist tot, aber das hat der Doktor vergesseen; meistens jedenfalls. Wahrscheinlich erinnert er sich auch nicht gern daran, daß er vor den „Banditen“ in Deutschland nach Amerika floh und seiner Schwester wie auch seiner Mutter nur eine Rückfahrkarte nach Galizien kaufte.

Der Doktor verirrt sich. Manchmal geht er zurück an seinen Schreibtisch in der Universität, um ein wenig nach dem Rechten zu sehen. Was macht es, daß er schon lange entlassen ist? Unangenehmer mag vielleicht die Erinnerung sein, daß er sich lange mit seinen Kollegen vom Fach unterhielt, bis tief in die Nacht hinein über die Welt und vielleicht auch über Gott philosophierte, bis es dem Personal in der Notaufnahme reicht, bis man seine Frau anruft und verlangt, sie möge ihn abholen. Aber der Doktor erinnert sich nur noch selten. Er verirrt sich auch oft. Manchmal findet er nicht einmal mehr den Weg zur Universität. Und wenn man ihn nach seiner Frau fragt, dann vergißt er sogar, daß er schon lange nicht mehr mit Gretel verheiratet ist.

Der Doktor hat eine schöne Nachbarin. Die kümmert sich um ihn. Warum, das ist ihm nicht recht klar. Einmal hat die schöne Nachbarin ihm gesagt, sie sei seine Tochter, aber das weiß der Doktor zwei Seiten später nicht mehr, und er freut sich wieder, wenn auch etwas verwundert, über die schöne Nachbarin, die sich um ihn kümmert. Später kann auch die schöne Nachbarin nicht mehr helfen, und der Doktor braucht ein Heim.

Man könnte glauben, daß der Doktor sich fortwährend nur Fragen stellt. Aber jede Frage kreist eine leere Stelle, einen weißen Fleck in unserem Wissen ein; und was ist, wenn wir plötzlich nur noch von weißen Flecken umgeben sind? Wird man die Fragen dann noch aushalten? Der Doktor jedenfalls antwortet; er umrundet mit leichten Schritten das Unvereinbare; er kommentiert, monologisiert, schafft sich mit seinen Sätzen eine Welt, die sich in erinnerungsloser Eile verändert und nur in seinen Sätzen zusammenhält. Das ist nicht leicht zu begreifen.

Der Tod ist auch nicht zu begreifen. Er ist zu erfahren; er ist bedeutungslos. Es ist aber ebenso der Anfang aller Bedeutung, denn ohne Endlichkeit gäbe es keine Bedeutung. Niemand erinnert sich an seinen Tod, darum hat er auch keine Sprache gefunden. Nur wer an der Krankheit leidet, der weiß vielleicht, was es heißt, sich an seinen Tod zu erinnern. Das ist natürlich absurd. Ein Mann sitzt am Kaffeetisch. Er redet mit seiner Familie. Es ist ein Sonntagnachmittag. Und plötzlich ist da etwas anderes. Alle starren ihn erstaunt und verlegen und verwirrt an. Was hat er nur gesagt? Was falsch gemacht? In seinen Augen liegt tiefes Entsetzen. Gerade war er noch hier, und jetzt weiß er nicht mehr, was es bedeutet, er ist hinter alle Sprache gefallen. Er weiß, da gibt es etwas, das er wissen müßte, aber er sieht nur einen weißen Fleck. Etwas — aber was nur? — stürzt ihm ins Nichts, an den Dingen sterben ihm die Worte.

Und mit der Welt stirbt auch er. Gedächtnislücke für Gedächtnislücke. Er lebt sich zurück zu seinen Anfängen. Zuerst taucht die Vergangenheit wieder auf. Heute und Vorvorgestern geschehen am gleichen Tag. Bald ist er dann wieder ein Kind. Ein Kleinkind. Ein Säugling. Die Familie am Kaffeetisch sieht, wie der Mann sich entfernt. Ein wenig Tod liegt in seinen Augen. Dabei hat er nur etwas vergessen. Wer sitzt ihm da so dicht gegenüber? Was liegt da so gefährlich Blitzendes auf dem Tisch? Was ist das? Für dieses Entsetzen gibt es keine Worte, es spricht nicht, weil der Tod keine Worte hat. Es liegt einzig im Blick, diesem ängstlichen gehetzten Blick, mit dem der Mann auf das Stück Kuchen auf dem Teller starrt.

Das ist die Krankheit, die Altersheimer Krankheit, wie der Doktor sich verhört. Krankheiten sind in Mode. Sie sind sehr viel interessanter als die Gesundheit, das wußte schon das Fin de siècle. Dustin Hoffman ist derRainman, Daniel Day Lewis schreibt Gedichte mit dem „linken Fuß“, und demnächst zuckt und sabbert Robert de Niro über die Leinwand. Krankheiten sind absurd, kafkaesk, allein deshalb betitelt der Neurologe Oliver Sacks eines seiner Bücher mit Fallgeschichten aus der Psychiatrie Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte. Bei Irene Dische gibt die Krankheit den Stil, die Methode. Der Doktor mit dem unzuverlässigen Kurzzeit-

gedächtnis ähnelt dem modernen, nicht weniger zuverlässigen Autoren. Und seine Tochter leiht sich seine Augen.

Die fehlende Logik, die Inkohärenz der Geschichten, die anarchische Komik der Fehlleistungen, der Papalangi-Blick auf das Alltägliche — Krankheitssymptome werden zu Stilmitteln des Erzählens, die Störungen eines dementen Hirns überschrieben in textuelle Volten. Vielleicht war es ja auch umgekehrt, und die Krankheit, die in den westlichen Gesellschaften zur vierthäufigsten Todesursache wurde, imitiert nur die Moderne, wie das Leben so oft die Kunst imitiert.

Ich weiß nicht, was der Doktor zu alledem sagen würde. Er selbst hat es wohl auch schon wieder vergessen, aber vielleicht würde er mich dabei ansehen, und bei dem Blick in seine Augen, da wüßte ich wieder, was bei dieser Übersetzung von Krankheit in Literatur verlorenging.

Irene Dische: Der Doktor braucht ein Heim. Aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser. Suhrkamp-Verlag, 43 Seiten, 18.- DM