Harter Tourismus Ost

■ Rüdiger Kind auf den Spuren ausgebuffter Tourismus-Manager, die Westurlauber mit neuen Konzepten in die ehemalige DDR locken

RÜDIGER KIND

auf den Spuren ausgebuffter Tourismus-Manager, die Westurlauber mit neuen Konzepten in die ehemalige DDR locken

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ls Werner Doehse aus Bottrop während seines letztjährigen DDR-Urlaubs mit Frau und Kindern das Restaurant „Zum Broiler“ in Zittau ansteuerte, nahm er vorsichtshalber Campingstühle und Lektüre mit, um die befürchtete Wartezeit vor der beliebten Gaststätte sinnvoll zu nutzen. Doch wider Erwarten begehrte keine geduldig ausharrende Schar hungriger DDRler Einlaß, ja, die Droehses waren sogar die einzigen Gäste im früher überfüllten Hendlparadies. „Das ist ja fast wie bei uns im Wienerwald“, freute sich der Familienvater über die unerwartete Leere, „und schmecken tut's genauso“, ergänzte Gattin Marianne, als sei sie von der Geschäftsführung zu Werbezwecken angeheuert worden. So wie Droehses ging es den meisten der wenigen, die die Noch-DDR im Sommer '90 besuchten.

Aufgeschreckt von Horrorvisionen eines deutschen Nachrichtenmagazins — die angeblich drohende Touristeninvasion vermochten dessen Schreiber nur noch mit militärtaktischem Vokabular in den Griff zu bekommen, von Invasion war da die Rede und vom touristischen Zangenangriff auf die DDR —, verschoben viele Bundesbürger ihren geplanten Osttrip auf die Zeit nach der Übernahme. „Chaos“, „Ausrufung des Notstandes“ — das Horrorszenario von verstopften Straßen und Klos und ohne ersichtlichen Grund zusammenbrechenden Hotelbetten verfing: „Und keener kommt“, resümierte dann im August ein DDR-Reisefachmann das Ausbleiben des vorhergesagten Sturmangriffs auf die Touristenzentren des Landes, das flugs zur „Tourismuspleite an der DDR-Ostseeküste“ emporstilisiert wurde, die die traditionellen Ferienorte in den Ruin treibe. Die Katastrophennummer lief nun plötzlich andersrum.

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ie Wahrheit liegt, wie so oft, in der Müllkippe: denn dort haben findige Jungunternehmer (West) die größte Attraktivität der ehemaligen sogenannten DDR für Westbesucher entdeckt. „Die ham doch schon allet jesehn, wat willste den mit Kap Arkona und Erzgebirge kommen. Damit kannste die doch nicht hinterm Ofen vorholen“, weiß Kurt Stanke von den neugegründeten Westberliner „Nahreisen“. „Aber für Abenteuerfreaks und Nostalgiefanatiker haben die FNL (Fünf Neuen Länder) einiges zu bieten.“ So bietet Stanke mit seinem jungen Team unter dem Katalogtitel „Abenteuer im Wilden Osten“ ein breitgefächertes Tourenprogramm für Westler an, denen die Aussicht auf einen Paragliding-Trip über die Viktoria-Fälle nur noch ein müdes Lächeln entlocken kann.

Ob diese Versuche, die ehemalige DDR als Abenteuerspielplatz für Wessis zu „attraktivieren“, von Erfolg gekrönt sein werden, wird die Saison '91 zeigen — die Buchungen bei Redaktionsschluß jedenfalls lassen Kurt Stanke hoffen. Schon jetzt zeichnet sich ein Trend ab: Am traditionellen Sightseeing haben die verwöhnten Westler wenig Interesse. Karl Mays Indianermuseum in Radebeul etwa, früher ein Muß, lassen die Besucher aus dem Westen nach der Vereinigung links liegen. Nach Rheinsberg kommen sie nicht, um auf Tuchos Spuren zu lustwandeln, sondern eher, um das landschaftlich reizvoll gelegene erste Kernkraftwerk der DDR zu besichtigen — für Technikfetischisten ein Industriesaurier, der mehr als jede Geisterbahn für Nervenkitzel gut ist. Absoluter Renner in Stankes Angebot ist jedoch die „Bitterfeld-Trophy“, ein Erlebnisrallye für den historisch interessierten Techno-Freak, bei der zwischen Leuna und Bitterfeld keine Dreckschleuder der maroden Ostchemie ausgelassen wird. Gefahren wird mit tiefergelegten Spezial-Trabis, Sonderprüfungen bei der Wismut gehören ebenso zum Härtetest wie Geländefahrten in „Deutschlands schönsten Sondermülldeponien“.

„Dagegen ist die Marlboro-Fahrt sanfter Tourismus“, brüstet sich Stanke-Kompagnon Seelow und entschwindet mit seinem goldmetallicfarbenen Benz.

Und auch für die unter Artenschutz stehenden Spezies der sanften Touristen bietet sich im Osten was Neues: Freunde der naturnahen Erholung finden im „Urlaub auf der LPG“ Abwechslung vom individualistischen Kleinklein westdeutscher Landidyllen. Unterbringung in großzügig bemessenen Kojen ehemaliger Stallungen ermöglicht eine äußerst günstige Kalkulation. Für 15 Mark pro Mann und Nase können landluft- hungrige Westler die Zukunft des deutschen Bauernstands am eigenen Leib erahnen.

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och auch für gehobene Ansprüche hat sich die darniederliegende ehemalige Osthotellerie, jetzt größtenteils privatisiert, etwas einfallen lassen. Die unter der Leitung von Wolfgang Schnur stehende Nobelherberge „Hotel 4. Jahresplan“ sorgt sich nach streng marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten um das Wohl jener Gäste, die bereit sind, 265 Mark für eine Nacht in dem ehemaligen Schulungszentrum der SED an der Müritz zu berappen. „Ja, wir haben anfangs Lehrgeld bezahlen müssen“, meint der bei seinen Mitarbeitern beliebte Geschäftsführer, „aber mittlerweile rechnet sich der Laden.“ Die Porsches und Siebener BMWs auf dem Parkplatz belegen jedenfalls eindrucksvoll Schnurs These, daß dem gelangweilten Bundesbürger der Kitzel einer Unterbringung auf Kaderebene einiges wert ist.

In der Hotelbar „Zwangswirtschaft“ geht jeden Abend die Post ab: aufstrebende Jungunternehmer finden da am Tresen in reaktivierten SED- Kadern die mittlerweile arg entbehrten ideologischen Sparringspartner, mit denen sie über Abschreibungsrichtlinien, Warentermingeschäfte oder die mittelfristigen Perspektiven der Aktenvernichtungsbranche diskutieren können. Stankes Angebot wäre natürlich nicht vollständig ohne das „Spurensucher-Arrangement“, das dem Familiennostalgiker unter kundiger pastoraler Leitung die Möglichkeit bietet, seine Familienwurzeln im märkischen Sand aufzuspüren. Doch „die meisten kommen her, um das Ungewohnte zu erleben“, wie Rheinsbergs Bürgermeister Patzke weiß. Aus diesem Grund könnte absoluter Publikumsrenner langfristig das nicht unumstrittene Projekt werden, die von der SED- Führung zur Internierung von Regimegegnern geplanten Lager in Ferienklubs umzuwidmen. Erlebnishungrige Westtouristen könnten dort den diskreten Charme der Bürokratie am eigenen Leib erfahren: Bestens geschulte Animatoren aus den Reihen des ehemaligen Wachpersonals stehen schon zur Betreuung der Gäste Gewehr bei Fuß.