Für die Jugend spielt Geschichte eine museale Rolle

Die zweite „Weiße-Rose-Konferenz“ fand wenig Interesse/Nationalismus und nationale Identität im wiedervereinten Deutschland waren zentrales Thema  ■ Von Sigrun Nickel

Hamburg (taz) — Die Rückbesinnung auf die Geschichte hat Konjunktur. Die These Enzensbergers, Saddam Hussein sei Hitlers Wiedergänger, stellt nur einen Versuch von vielen dar, Schlüsse aus dem Vergangenheit zu ziehen. Offensichtlich hängt aber die Bereitschaft, öffentlich aus der Geschichte wie auch immer geartete Lehren zu ziehen, von der Größe und Gefährlichkeit des Ereignisses ab. Im deutschen-deutschen Annektionsgetöse bleiben die historischen Diskussionen kleinen Insider-Zirkeln überlassen, vor allem junge Menschen kriegen das große Gähnen, wenn die Taten der Altvorderen aus der Ecke gekramt werden.

Beispiel für die Müdigkeit der alten und vor allem der jungen Deutschen, ihre heutige Lebenswelt in Beziehung zu ihrer sogenannten „jüngsten Vergangenheit“ zu setzen, war die „Weiße-Rose-Konferenz“ vom 25. bis 27. Februar in Hamburg. 1.000 persönliche Einladungen waren ergangen und sämtliche Schulen Hamburgs angeschrieben worden, doch den Podiumsdiskussionen folgte jeweils nur ein kleine Schar, die sich im Audimax der Hamburger Universität verlor.

Das Angebot, mit Überlebenden und Angehörigen hingerichteter Mitglieder der bedeutensten studentischen Widerstandsgruppe gegen das Nazi-Regime ein persönliches Gespräch zu führen, wurde kaum genutzt. Anneliese Knoop-Graf, Schwester von Willi Graf, der wie die Geschwister Scholl, Alexander Schmorell, Christoph Probst und der Professor Kurt Huber in München hingerichtet wurde, die Mitglieder des Hamburger Zweiges der „Weißen Rose“ Thorsten Müller, Albert Suhr, Ilse Ledien, Maria Leipelt, Franz J. Müller von der Ulmer Gruppe und andere warteten vergeblich auf den Dialog mit der Jugend.

Nach dem Erfolg der ersten „Weiße-Rose-Konferenz“ 1988 in München, wurden die hoch gesteckten Erwartungen enttäuscht. 2.000 BesucherInnen kamen damals, jetzt in Hamburg dürften etwa zehn Prozent davon erschienen sein. Initiiert wurde die Veranstaltung von der „Weiße-Rose-Stiftung“, die sich zeitgleich mit der amerikanischen „White Rose Foundation“ nach dem Bitburg-Besuch des damaligen US- Präsidenten Ronald Reagan und Bundeskanzler Helmut Kohl gründete. 1985, zum 40. Jahrestag des Kriegsendes, kam es zwischen den den beiden Regierungschefs zum versöhnlichen Shakehands über den Soldatengräber, darunter auch Gräber von Angehörigen der Waffen-SS. Die beiden Organisationen formierten sich, um entgegen des aufwallenden Harmonie-Rausches das Gedankengut des anderen Deutschlands, des Widerstands lebendig zu halten.

Doch der pädagogisch-aufklärerische Ansatz der „Weiße-Rose-Stiftung“, vor allem Jugendlichen für die Ereignisse in den Jahren 1933 bis 1945 zu sensiblisieren, stieß in Hamburg auf wenig Interesse. Vielleicht wäre der Brückenschlag zwischen Vergangenheit und Gegenwart aber auch bei größerer Beteiligung mißlungen; der Blick zurück ließ während der Veranstaltung nur vereinzelt Verquickungen mit der Gegenwart erkennen. Haben die Ideen der „Weißen Rose“ heute noch Gültigkeit, gibt es Parallelen zum Widerstand in Osteuropa und somit der ehemaligen DDR, haben die Anti-Golfkriegsdemonstrationen einen Teil des Erbes der „Weißen Rose“ in die Tat umgesetzt — Fragen, die ungeklärt blieben. Die Themen Golfkrieg oder der Nationalismus in Amerika, wie es etwa von dem Historiker Georg Iggers angesprochen wurde, blieben weitgehend ausgeklammert.

Wie ein roter Faden zog sich jedoch die Suche der wiedervereinten Deutschen nach nationaler Identität als Thema durch die Debatten. Während die einen, vor allem die älteren TeilnehmerInnen der „Weiße-Rose- Konferenz“, in ihrer Betrachtungsweise bei 1945 stehenblieben, gelang es den Jüngeren dann und wann, das Augenmerk auf das Hier und Jetzt zu lenken. „Der ohnehin erstarkte Nationalismus in den fünf neuen Bundesländern wird in der wirtschaftlich desolaten Situation noch zunehmen“, warnte Rainer Eckert vom Institut für deutsche Geschichte an der ehemals Ostberliner Akademie der Wissenschaften. Die Deutschen zweiter Klasse würden ihr Recht auf Anerkennung einfordern; zu tief sitze die Auffassung, der wahre Grund für die mangelnde Förderung durch den Westen, sei das Fehlen der Akzeptanz. Doch auch „Ossis“ wollten gute Deutsche sein.

Das Bedürfnis nach Assimilation an den Westen sei so stark, daß alle Traditionen des SED-Regimes beseitigt würden — auch der Antifaschismus sei diskreditiert. Straßennamen, die an Mitglieder des kommunistischen Widerstands gegen das NS-Regime oder der „Weißen Rose“ erinnerten, würden umbenannt oder enstprechende Schilder mit roter Farbe beschmiert, berichtete Gerald Diesener von der Universität Leipzig.

Die realen Ungleichheiten der gesellschaftlichen Systeme, der wirtschaftlichen Strukturen und kulturellen Standards könnten durch die Integrationsideologie, die sich in der Parole „Einig Vaterland“ manifestiere, höchstens vorübergehnd kaschiert werden, kritisierte die Historikerin Barbara Vogel. Der ethnische Nationalbegriff habe den politischen bisher nicht ersetzen können. Die Vision der multikulturellen Gesellschaft sei als alter Hut abgestempelt. Spätestens das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum kommunalen Ausländerwahlrecht habe mit aller Deutlichkeit in Erinnerung gerufen, daß die Unterscheidung zwischen „deutschen Einwohnern“ und Ausländern das politische Denken und Handeln in diesem unserem Lande bestimme. Wenn Nationalität zum identitätsstiftenden Element der bundesrepublikanischen Gesellschaft ernannt werde, so werde Ausgrenzung wieder legitimierbar, mahnte die Hamburger Historikerin Barbara Vogel.

Die Diagnose eines Mangels an Geschichtsbewußtsein sei stets ideologiehaltig, denn gemeint sei das Fehlen oder der Verzicht auf die identitätsbildende nationalstaatliche Tradition, so die Historikerin weiter. Die schwache Ausprägung des Nationalgefühls, von Demoskopen des öfteren aufgezeigt, sei falsch interpretiert worden, kritisierte Geschichtsdidaktiker Bodo von Borries. Untersuchungen hätten ergeben, daß Nationalstolz den weniger Informierten und weniger Demokratiebewußten als Ersatzstabilisierung diene. Die durch Schnellebigkeit und hohe Innovationsraten geprägte Zeit, mache es insbesondere SchülerInnen schwer, aus der Historie zu lernen. Die moralisch bequemere Identifikation mit den Opfern des Nationalsozialismus müsse im Geschichtsunterricht der weit unbequemeren Beschäftigung mit den MitläuferInnen und TäterInnen weichen. Nur so könne die Widersprüchlichkeit menschlichen Handelns begriffen und auf die aktuellen Ereignisse übetragen werden. Zur Zeit spiele Geschichte für die Jugendlichen jedoch eine museale Rolle. Eine Umfrage in Süddeutschland mache deutlich, wie irreal die historische Einschätzung unter den SchülerInnen sei: Fast 80 Prozent erklärten, hätten sie während der Nazizeit gelebt, wären sie in die Widerstandsbewegung gegangen.

Daß die „Weiße-Rose-Konferenz“ wenig zur Auseinandersetzung mit dem Nationasozialismus beigetragen und den musealen Charakter der Geschichte unterstützt hat, war angesichts der großen Anzahl angereister ExpertInnen und ZeitzeugInnen bedauerlich. Mehr aktuelle und weniger rein akademische Anknüpfungspunkte könnten der nächsten Konferenz vielleicht zu mehr Erfolg verhelfen.