Der RGW ist viele kleine Tode gestorben

Die Auflösung des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe wird ein Vakuum in Osteuropa hinterlassen/ Vielfältige Gründe für sein Scheitern/ Mit dem Exportzwang zur Billigproduktion, vom Importverbot zur Eigenherstellung: Wie eine Spirale zog sich die Wirtschaft immer mehr in sich zurück  ■ Von Erika Maier

Das große schlanke Haus am Moskauer Kalininprospekt in der Gestalt eines aufgeschlagenen Buches müßte derzeit eigentlich in seinen Grundmauern erzittern. Als Domizil des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) direkt an der Moskwa gelegen, sollte seine Symbolik Weltoffenheit, Dynamik und Weitsicht demonstrieren. Doch 42 Jahre nach seiner Gründung wird nun das Buch der Geschichte des RGW endgültig zugeschlagen, auch wenn die letzte Ratstagung immer wieder verschoben wird. Es liegt nicht nur daran oder am Golfkrieg oder den wachsenden sozialen Ängsten der Menschen, daß so wenig Notiz vom Ende des RGW genommen wird. Gestorben ist er im Grunde über viele kleine Tode bereits in den letzten Jahren. Seine möglicherweise letzte Chance verstrich mit dem Scheitern der Perestroika. Mehr als zwei Drittel des ökonomischen Potentials des RGW entfallen auf die sowjetische Wirtschaft, so daß Dynamik oder Stagnation der wirtschaftichen Zusammenarbeit zwischen den Ländern ganz wesentlich durch Dynamik oder Stagnation der UdSSR-Wirtschaft entschieden wurde.

Politische Aussteiger werden ausgegrenzt

Manche sind mit dem Thema schnell fertig, indem sie die Ursachen für den Bankrott auf eine fehlerhafte Gründungskonstruktion und sowjetische Machtansprüche reduzieren. Es wäre zweifellos naiv, die stalinistische Handschrift bei Gründung und Konstruktion des RGW zu übersehen — wirtschaftliche Vernunft wurde wieder und wieder politischen Zielen untergeordnet. Aber auch wenn diese Betrachtung heute oft im Vordergrund steht: Hatten die Länder Osteuropas seinerzeit angesichts von westlichem Embargo und Wirtschaftsboykott überhaupt eine andere Alternative, als sich wirtschaftlich und politisch zusammenzuschließen? Die Gegenwart, etwa die rigoros zusammengestrichene Entwicklungshilfe für Kuba oder bis vor kurzem für Nicaragua, beweist, daß politische Aussteiger damals wie heute mit wirtschaftlicher Ausgrenzung zu rechnen haben.

Die Idee einer Wirtschaftsgemeinschaft sozialistischer Länder fand in breiten Kreisen der beteiligten Staaten Zustimmung. Es leuchtete ein, daß nur durch internationale Zusammenarbeit in Forschung und Produktion Rückstände überwunden und das Lebensniveau der Bevölkerung erhöht werden könne. Achtung der staatlichen Souveränität, Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, Gleichberechtigung und gegenseitige Hilfe wurden in den RGW-Dokumenten niedergeschrieben. Die Tatsache, daß auf die RGW- Länder 35 Prozent der Erdgas- oder 60 Prozent der Steinkohle- und Kalivorkommen der Welt entfielen, etwa 25 Prozent der Weltindustrieproduktion auf den RGW-Bereich entfiel und mit rund 400 Millionen Menschen ein großer Markt Produktionsmöglichkeiten in hohen Stückzahlen bot, verbreitete Optimismus und Hoffnung.

Betrachtet man aus heutiger Sicht die Geschichte des RGW, die ja in erster Linie die Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung seiner Mitglieder ist, so kommt man auf mehr Fragen als schlüssige Antworten.

Die erste Zeit bis Anfang/Mitte der siebziger Jahre schien das Vorgehen der Länder im wesentlichen zu bestätigen. Auch wenn die erreichten Ergebnisse seinerzeit unzulässig glorifiziert wurden, waren die Fortschritte nicht zu übersehen. In vergleichsweise kurzer Zeit gelang es, die meist agrarischen Länder beträchtlich zu industrialisieren und das Lebensniveau der Bevölkerung zu erhöhen. Vergleichbare Länder Südeuropas anerkannten die Ergebnisse der RGW-Länder bei der Überwindung der Arbeitslosigkeit, des inneren Sozialgefälles, der Wohnungsnot und der Entwicklung vergleichsweise moderner Volkswirtschaftsstrukturen. Wachstumsraten von jährlich sieben und mehr Prozent wurden wesentlich dadurch erreicht, daß Konzentrationseffekte erschlossen werden konnten. Stabile Rohstofflieferungen, insbesondere der UdSSR an die rohstoffarmen Länder, entstanden ebenfalls in dieser Periode.

War man damals klüger, konsequenter, weitsichtiger, so daß ein Fortschritt gelang, der ab der zweiten Hälfte der siebziger Jahre ausblieb und immer mehr in Stagnation umschlug? Es waren wohl vor allem drei Ursachen, die das Versagen der RGW-Länder in den letzten Jahrzehnten bestimmten:

1.Während quantitative Wachstumsprozesse der Industrialsierung relativ erfolgreich durch zentralistische Entscheidungsfindung beherrschbar sind, versagen diese Mittel schlagartig, wenn komplizierte Prozesse zu lösen sind. Es gelang den Ländern nicht, ein Wirtschaftskonzept zu entwickeln und umzusetzen, das den modernen Produktivkräften gerecht wird. Sowohl innerhalb der Länder als auch im Integrationsmechanismus des RGW fehlte das Interesse an technischem Fortschritt, Leistungszuwachs und Effizienz. Es ist zu einfach, dafür staatliche Planung und Plankoordinierung zwischen den RGW-Ländern verantwortlich zu machen. Der Fehler lag in der Unfähigkeit, marktwirtschaftliche Kategorien systemimmanent einzusetzen.

2.Eine Ursache des wirtschaftlichen Versagens der RGW-Länder liegt in ihren ungünstigen historischen Ausgangsbedingungen. Im Vergleich zu westlichen Industrieländern waren die UdSSR und die anderen RGW-Länder vor allem durch die riesigen Zerstörungen des Zweiten Welktkriegs benachteiligt, ferner durch niedrige Produktivität, beträchtliche Niveauunterschiede zwischen den Mitgliedern und geringfügiger gegenseitiger Außenhandel. Soweit die RGW-Länder bis dahin überhaupt Außenhandelsbeziehungen untereinander hatten, so waren diese fast völlig auf die Länder Westeuropas konzentriert. Den RGW- Ländern fehlten weitgehend die Traditionen und Erfahrungen der industriellen Großproduktionen und die im Westen historisch gewachsene Disziplin des modernen Industriearbeiterstammes. War es möglicherweise allein durch die ungleichen Ausgangsbedingungen ein hoffnungsloses Unterfangen, mit jenen Ländern in Wettstreit treten zu wollen?

3.Es ist den RGW-Ländern aus verschiedenen Gründen nicht gelungen, ein modernes System internationaler Arbeitsteilung zu entwickeln. Typisch für die Austauschbeziehungen zwischen den RGW-Ländern ist nach wie vor der Handel Rohstoffe gegen Fertigerzeugnisse beziehungsweise Fertigerzeugnisse gegen Fertigerzeugnisse.

Dabei wurden im RGW vor allem auf Initiative der Sowjetunion wieder und wieder strategische Konzepte zur grundlegenden Veränderung der Zusammenarbeit ausgearbeitet. Nimmt man beispielsweise die Beschlüsse der Wirtschaftsberatung auf höchster Ebene von 1984, so findet man kritische Wertungen des Erreichten und brauchbare Einschätzungen der notwendigen materiellen Entwicklungsrichtungen. Darin liegt offensichtlich das Defizit nicht. Der Mangel liegt in der Unfähigkeit, solche Erkenntnisse in konkretes Handeln umzusetzen.

Wachsende Stagnation im RGW- Bereich hatte widersprüchliche Wirkungen auf die Ost-West-Beziehungen. Der Drang jedes einzelnen Landes, seine Hauptprobleme bei der Modernisierung der Wirtschaft außerhalb des RGW zu lösen, nahm immer mehr zu. Zugleich verschlechterten sich die terms of trade ununterbrochen, weil mangels wirtschaftlicher Effizienz die Wettbewerbsfähigkeit der Exportwaren immer mehr abnahm. In einigen Jahren verschlechterte sich so der interne Umrechnungskurs DM gegen Mark der DDR von 1:2,20 auf 1:4,60. Die RGW-Länder entwickelten sich unter dem Exportzwang zu Billigproduzenten und waren zugleich gezwungen, Importe durch Eigenproduktionen abzulösen. Wie eine Spirale zog sich die Wirtschaft immer mehr in sich zurück und verlor dadurch zusätzlich an Wettbewerbsfähigkeit.

Resümierend muß man zu dem Schluß kommen, daß der Untergang des RGW unter den realen Konditionen der vergangenen vier Jahrzehnte gesetzmäßig war. Das ist wohl richtig, wenn man davon ausgeht, daß dieser Versuch einer sozialistischen Gesellschaft mißlungen ist, weil die Ausgangsprämissen für ein fortschrittliches, lebens- und wettbewerbsfähiges System nicht gefunden wurden. Ob es so sein mußte, wird sicherlich unterschiedlich zu bewerten sein. Ob etwas fehlt in der Welt, wenn der RGW begraben ist?

Ich meine — ja. In der rauhen Weltwirtschaft wurden von den RGW-Ländern alternative Prämissen des Umgangs mit wirtschaftlich Schwachen, der Hilfe und Zusammenarbeit praktiziert, beispielsweise mit Vietnam, der Mongolei und Kuba. Der Druck auf sie wird stärker werden, wenn künftig dieser Gegendruck fehlt. Für die Länder, die bisher im RGW zusammengearbeitet haben und trotz kritischer Wertung der Effizienz des Erreichten durch ein dichtes Netz arbeitsteiliger Beziehungen real eng miteinander verbunden sind, entsteht ein Vakuum. Die EG ist nicht gewillt und real auch nicht in der Lage, die ehemaligen RGW-Länder kurzfristig in ihr System zu integieren. Die Länder selbst sollten sich vor Übereile hüten. Welche Wirkungen bei Sturzgeburten eintreten, zeigt der wirtschaftliche und soziale Zusammenbruch der ostdeutschen Länder. Die anderen RGW-Länder würde es noch stärker treffen, weil die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Wirtschaft teilweise beträchtlich unter der der DDR liegt.

Die Meinungen sind bisher nicht einmütig, ob die konzipierte Gründung einer „Organisation für internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit“ (OiWZ) mit Beratungs- und Koordinierungsfunktionen wirkliche Alternativen oder nur einen Restaurationsversuch alter RGW-Strukturen bietet, ob der mitteleuropäische Dreierbund Ungarn, Polen und CSFR eine konstruktive Funktion oder eine Vereinigung gegen andere Partner, vor allem gegen die Sowjetunion ist.

Schließlich ist vor allem angesichts der zügigen Vorwärtsbewegung westeuropäischer Länder zum europäischen Binnenmarkt nicht auszuschließen, daß das ohnehin schwache Osteuropa durch Rückfall in völlig zersplitterte entkoppelte Einzelwirtschaften und Sowjetrepubliken auf Jahrzehnte zurückgeworfen wird.

Erika Maier war bis zur Abwicklung Direktorin des Instituts für Allgemeine Wirtschaftstheorie der Hochschule für Ökonomie in (Ost-)Berlin