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Kurdische Intifada in der Stadt Sirnak

Revolte in der kurdischen Stadt Sirnak in der Ost-Türkei gegen Militärs und Armut/ Polizei schießt in die Menschenmenge/ Bevölkerung demonstriert für die Guerilla PKK  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

In der türkischen Stadt Sirnak, nahe der irakischen Grenze, sind Donnerstag nachmittag nach offiziellen Angaben drei Menschen während der bürgerkriegsähnlichen Kämpfe zwischen der kurdischen Bevölkerung und und dem Militär getötet worden. Einwohner berichten dagegen von wesentlich mehr Todesopfern. Die Sondereinheiten der Armee hätten ein regelrechtes Blutbad in der Stadt zu verantworten.

Die Ereignisse begannen, als das Militär auf dem Gelände der nahegelegenen Kohlewerke in die Luft feuerte, um Bauern daran zu hindern, Kohlereste einzusammeln. Seit einiger Zeit sind die staatlichen Kohlewerke stillgelegt. Die Kohle, die die Bauern seit je her auf Maulesel laden und in der Stadt verkaufen, ist die wesentliche Existenzquelle der 30.000 Einwohner zählenden Stadt. Ein Soldat starb, als aufgrund des Feuers eine Stromleitung herunterstürzte. Mehrere hundert Maulesel wurden von den Soldaten getötet. „Wir hungern, gebt uns unsere Kohle“, riefen die Menschen.

Der Protestdemonstration, die bei den Kohlewerken begann und sich nach Sirnak bewegte, endete in einer Revolte der kurdischen Einwohner gegen die Staatsmacht. Als die Demonstranten versuchten, trotz einer Militärbarrikade am Stadtrand weiterzumarschieren, schossen Sondereinheiten der in der Region verrufenen Anti-Guerilla-Einheit in die Menge. Der 23jährige Salih Talayhan und der 18jährige Sehmuz Yurga wurden getötet.

Ein stundenlanger Kampf folgte auf den Straßen Sirnaks. Mit Steinen und Holzlatten wehrten sich die Einwohner gegen schießendes Militär. Amtliche Gebäude wurden verwüstet. „Es lebe die PKK“, „Es lebe Kurdistan“, „Nieder mit den Mördern“ waren die Parolen des Aufstandes. Wie bei den Revolten im vergangenen Frühjahr in den nahegelegenen Städten Cizre, Nusaybin und Silopi, wo mehrere Dutzend Menschen ums Leben kamen, beteiligten sich Frauen und Kinder an den Straßenschlachten. Die Unterstützung der Bevölkerung für die kurdische Guerilla PKK, die seit 1984 einen bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat führt, war offenkundig. Am Freitag kehrte in Sirnak, das einer Kaserne gleicht, Ruhe ein.

Der Ortsvereinsvorsitzende der „Sozialdemokratischen Volkspartei“, Kerim Ugur, zieht Parallelen: „In Sirnak haben sich Szenen abgespielt, wie in den palästinensischen Gebieten, die von Israel besetzt sind. Tausende Kugeln wurden abgefeuert.“ „Die Wut von Jahren hat sich entladen. Kinder und Frauen warfen mit Steinen auf die Amtsgebäude“, sagte der Vorsitzende der „Arbeitspartei des Volkes“, Mesut Uysal, der taz. Gestern wurden die vom Militär Erschossenen heimlich begraben, um Protestaktionen während der Beerdigungszeremonie zu verhindern. Mittlerweile hat der Gouverneur angekündigt, daß die Besitzer der toten Maulesel entschädigt werden und das Kohlesammeln wieder erlaubt wird. Doch eine Verhaftungswelle — in Sirnak befindet sich ein berüchtigtes Folterzentrum — ist weiter in vollem Gang. Der türkische Innenminister Abdülkadir Aksu sowie Vertreter politische Parteien haben sich in der Stadt angekündigt.

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