„Wir Kurden haben den Krieg verloren, das steht fest“

Die kurdischen Orte entlang der alten Seidenstraße haben besonders unter den Aus- und Nachwirkungen des Krieges im benachbarten Irak zu leiden/ Händler und Lastwagenbesitzer fordern von der türkischen Regierung einen Anteil an den EG-Entschädigungsleistungen  ■ Aus Urfa Lissy Schmidt

Die luxuriöse Kongreßhalle in der kurdischen Provinzhauptstadt Urfa, am Euphrat und kaum 50 km von der türkisch/syrischen Grenze entfernt gelegen, nimmt sich seltsam aus. Genauso seltsam wie die Anlagen um den gigantischen Atatürk-Staudamm am Euphrat, nordöstlich der Stadt, wo ein Hilton-Hotel in einem großzügigen Park die Besucher aufnimmt, die tagsüber in der Kongreßhalle über neue Technologien der Bewässerung, Staudammbau oder Finanzierungssysteme der internationalen Organisationen referieren.

Diese Symbole des „Sprungs in das nächste Jahrhundert“, wie sie in der türkischen Presse oft zitiert werden, haben wenig mit der alltäglichen Realität Urfas, der heiligen Stadt Abrahams, zu tun. Dort scharen sich die Bettlerheere vor den Moscheen, der Weg zur Grabstätte Abrahams ist von bettelnden Frauen und Kindern und Straßenverkäufern gesäumt. Morgens um sechs Uhr versammeln sich Hunderte von Männern auf dem „Tagelöhnermarkt“, einem großen Platz in der Stadtmitte, von wo aus einige wenige von ihnen auf Felder, Plantagen oder andere vorübergehende Arbeitsplätze gefahren werden. Mit der Kongreßhalle hat die Bevölkerung nichts zu tun, wertet sie auch nicht als eine Hoffnung für eine bessere Zukunft, denn das GAP — das gigantische Südost-Anatolien-Entwicklungsprojekt — das an den Flußläufen des Euphrat und Tigris geplant ist und in dessen Zentrum die Stadt Urfa liegt, ist „was für die Auswärtigen“, so ist die allgemeine Überzeugung in Urfa. Was Urfa selbst an kärglichem Reichtum beschaffen konnte, das verdankte es seiner Lage an der von den Ölfeldern des Iraks an die türkische Mittelmeerküste führenden Seidenstraße und seiner geographischen Mitte zu den Mittelmeerländern, die das wenige Exportgut der Provinz, Lebendvieh, in reichem Maße abkauften. Mit Golfkrise und -krieg versiegten auch diese beiden Unterhaltsquellen. Das führte dazu, daß die Händler und Autoritäten von Urfa kürzlich die exklusive Kongreßhalle für sich in Besitz nahmen und auf einer Veranstaltung Bilanz ihrer ökonomischen Verluste zogen. Allein circa 2.000 Lastwagenbesitzer, die Öl von Mossul an die Mittelmeerküste transportiert hatten, haben seit dem 2. August Bankrott angemeldet. 300 der insgesamt circa 15.000 Kleinhändler haben ebenfalls bankrott gemacht, Tausende ihre Läden vorübergehend geschlossen.

Während in den ersten sechs Monaten des Jahres 1990 Lebendvieh im Werte von 1.350.000 Dollar in die Mitteloststaaten verkauft wurde, sank diese Zahl in den zweiten sechs Monaten auf 280.000 Dollar. Das Versiegen dieser beiden Hauptunterhaltsquellen legte die Wirtschaft in der Provinz Urfa lahm. Die Großhändler im Stadtzentrum konnten keine Ware mehr an ihre Kunden entlang der Seidenstraße absetzen und gerieten so selber in Zahlungsschwierigkeiten. 6.235 Wechsel konnten allein im Monat Januar in der Provinzhauptstadt nicht bezahlt werden. Das sind mehr als im gesamten Jahr 1990. Am schlimmsten sind jedoch nicht die bankrotten Kleinhändler und Unternehmer dran, sondern deren Angestellte, immer Schwarzarbeiter, meist noch halbe Kinder, die schon in den ersten Monaten der Krise entlassen wurden. Sie sind in keiner Statistik verzeichnet, aber ihre Zahl hat die Zehntausend schon lange überschritten. Sie sind es, die nun Morgen für Morgen auf dem Tagelöhnermarkt vielleicht einmal in der Woche Glück haben.

„All diese Ereignisse sind durch die Golfkrise eigentlich nur beschleunigt worden“, sagt der Vorsitzende der Industrie- und Handelskammer in Urfa auf der Veranstaltung. „Wenn es hier in der Region Investitionen gäbe, die wirklich dem vorhandenen Potential angemessen wären, dann hätten wir auch diese Krise besser überstehen können“.

Die Provinz Urfa ist mit Bankrotten, Ladenschließungen und Exportverlusten kein Einzelfall. „Nicht nur, daß wir unser Vieh nicht verkaufen konnten“, klagt ein Züchter aus Diyarbakir, „wir müssen es auch noch weiter ernähren und durch den Winter bringen. Wovon denn bloß?“ Die Exporte der Nachbarprovinz Diyarbakir sind im gleichen Maße zurückgegangen wie die in Urfa. In den großen Passagen im Bauch der Stadt, wo Stoff- und Konfektionsgroßhändler normalerweise Kunden bis hin zur syrischen Grenze versorgten, herrscht Grabesstille. „Noch zwei Monate, dann ist Schluß“, sagt Enver Özdemir, Konfektionist, und holt aus der Schublade seines Ladentisches einen ganzen Haufen ungedeckter Schecks. „Seit Monaten habe ich kein Bargeld gesehen, ich werde meine Ware zurückgeben müssen und zumachen“.

In Batman, der nächsten Provinz in Richtung Osten, können die Händler nach Angaben der Einzelhandelsvereinigung nur noch 15 bis 20 Prozent ihres normalen Umsatzes verzeichnen. Wie in den anderen Provinzen auch haben die Banken in dieser kritischen Phase ihre Bargeldbestände fast völlig in den Westen abgezogen und die Möglichkeiten günstiger Kredite an Händler und Handwerker drastisch eingeschränkt. „Wir konnten früher Kredite in Höhe von fünf Millionen Türkischer Lira (circa 2.500 DM) pro Monat zu besten Bedingungen für jedes unserer Mitglieder erhalten“, erklärt der Vorsitzende der Vereinigung von Batman, „jetzt stehen der Vereinigung nur noch zehn Millionen Lira insgesamt zur Verfügung.“

Die Bereitstellung zinsgünstiger Kredite ist eine der Forderungen, die von allen betroffenen Provinzen immer wieder an Ankara erhoben werden. Kredite und Stundung nicht geleisteter Zahlungen sowie einen Verzicht der Versicherungen auf die Monatsbeiträge wollen die kurdischen Händler. Außerdem, so die zentrale Forderung auf der Veranstaltung in Urfa, bestehen die betroffenen Provinzen auf einem Anteil an der „Krisenentschädigung“, die Ankara von seiten der EG, der USA, Japan und dem kuwaitischen Emir erhalten hat.

Direkt an der Grenze in den Städten Cizre und Silopi scheint alles schon zu spät, nur 30 der 2.500 Läden entlang der Seidenstraße haben noch geöffnet. Am 1. Januar wäre die Miete für die ersten sechs Monate von 1991 fällig gewesen. Für viele Händler war das der Stichtag, ihr Bündel zu packen und die beiden Städte zu verlassen. „Uns hilft auch kein Kredit mehr“, meint ein Lastwagenchauffeur in Silopi resigniert, „wir haben den Krieg verloren, das steht fest“.

Soweit sind Händler und Chauffeure in Urfa noch nicht. Sie sind entschlossen, ihre Forderungen bis Ankara zu bringen, wenn es sein muß bis nach Brüssel. „Wenn schon Entschädigung“, meint einer der Teilnehmer in der Kongreßhalle, „dann auch an die, die den Schaden haben.“