Der Toten-Jingle

Nicht nur auf der Frequenzskala ist es zu merken: Radio 100 sendet seit Donnerstag nur noch eine Erkennungsmelodienschleife, weil von Geschäftsführer Thomas Thimme Konkurs angemeldet werden mußte. Danach wurden auch die MitarbeiterInnen vermittels ausgetauschter Schlösser ausgesperrt, Wach- und Polizeischutz fuhren auf. Auch die Richterskala verzeichnet wegen Radio 100 erebliche Erschütterungen in der Potsdamer und Kochstraße. Grund: die als selbstverwaltet geltenden Betriebe taz und Radio 100 sind geschäftlich und persönlich auf einfältige Weise verbandelt. So haben sich etwa die Geschäftsführungen bislang problemlos darauf verständigen können, den Verkauf von Radio 100 an den französischen Dudelwellenkonzern Nouvelle Radio Jeunesse (NRJ) zu befördern — obwohl die Mehrheit der MitarbeiterInnen sich für den Geldgeber Mediengruppe Schmidt und Partner (ElefantenPress) entschieden und angeboten hatten, die 60.000 Mark Bankschulden erstmal mit Spendengeldern auszugleichen. Schade, das Angebot kam zu spät, meint betroffen Herr Thimme. Schade auch, daß dieser Konkurs die MitarbeiterInnen des Radios rund 600.000 DM an ausstehenden Honorarforderungen kosten wird. Aber hier trafen sich eben zwei Interessen.

Die taz als Radio-100-Anteilseignerin bei Anderes Radio Berlin (ARB) möchte ja vielleicht nicht, daß die Mediengruppe Schmidt und Partner ('Freitag‘, 'Titanic‘), die im Osten wohl auch die 'Junge Welt‘ und die Druckerei der 'Tribüne‘ einkaufen will, zu groß wird [Vielleicht muß Radio 100 auch nur deshalb sterben, weil 'Titanic‘ Birgit nicht leiden mag? d.K.]. Ob Erik Weihönig, Geschäftsleiter bei Schmidt und Partner, Nachfolger des legendären Linkspressezaren Willi Münzenberg werden will? Schmidt und Partner sollen ihr Geld nicht nur durch Grundstücksgeschäfte akkumuliert haben. Igitt! Dann lieber die Francs aus Frankreich. Das Experiment »Brabbelradio« sei im übrigen gescheitert, heißt es von Klaus Wolschner aus der Redaktionsleitung der taz.

Das andere verschärfte Interesse liegt übrigens bei Herrn Thimme selbst und dem früheren Radio-100- Rathausreporter Dieter Rulff. Thimme sollen bei erfolgreichem Vertragsabschluß aus Paris eine Geschäftsführerstelle mit monatlich 6.000 Mark oder eine Abfindung über 40.000 Mark angeboten worden sein. Momentan schreibt Thimme, früher mal Gegner der neuen Medien und medienpolitischer Sprecher der Grünen, Briefe an die RadiomacherInnen, in denen er für die »geleistete ehrenamtliche Mitarbeit bei Radio 100« dankt. Auch so kann man sich Lohnforderungen vom Halse halten. Dieter Rulff, als Geschäftsführer des Anteilseigners ARB auch NRJ-Fan, soll angeblich für den Posten des Chefredakteurs vorgesehen sein.

Rulff wohnt mit taz-Lokalchef Axel Kintzinger zusammen, der übrigens am Donnerstag den ersten Toten-Jingle für Radio 100 sprach: »Sie hören 103,4 Megahertz Radio 100 — demnächst mit neuem Programm.« Das Endlosband ist inzwischen ausgetauscht. Es läuft der gewohnte Radio-100-Jingle. Technikerin Susi Wehrli durfte die Schleife nach Verhandlungen mit Thimme, dem Wachschutz, einem Anwalt und dem Polizeieinsatzleiter in der Nacht auf Freitag einlegen. Ob Radio 100 mehr als Jingles weitersendet, entscheidet sich heute. Dann entscheidet die Bank für Gemeinwirtschaft, ob sie einen Bürgen für die beschlagnahmten Gerätschaften akzeptiert. Auch die taz entscheidet heute, ob sie für Schmidt und Partner oder endgültig für die Franzosen von NRJ votiert. Die neue Lizenz für 103,4 allerdings, um die sich nun zwei konkurrierende GmbHs beim Kabelrat bewerben, ist wohl verloren. Man munkelt, daß der Kabelrat wegen Geschäftsgerangels die Lizenz an die abwicklungsbedrohten KollegInnen von Jugendradio DT 64 vergeben will. Marianne