Kurdistan — Kolonie ohne Namen und ohne Grenzen

■ Für Ismail Besikci birgt der Golfkrieg eine Chance zur Veränderung des Status quo : „Nur wenn die Kurden mit am Konferenztisch sitzen, kann es eine Lösung geben“ INTERVIEW

Der türkische Sozialwissenschaftler Dr. Ismail Besikci gehört zu den wenigen, die über die Kurdenfrage und Kurdistan forschen. Über ein Jahrzehnt verbrachte Ismail Besikci aufgrund von Veröffentlichungen in türkischen Gefängnissen.

Zur Zeit sind allein vor dem Staatssicherheitsgericht Istanbul vier Strafprozesse gegen ihn anhängig. Aufgrund der im Laufe des vergangenen Jahres veröffentlichten Bücher „Internationale Kolonie Kurdistan“, „Das Tunceli-Gesetz und der Genozid von Dersim, Wissenschaft, Staatsideologie, Demokratie und Kurdistan“ drohen ihm Gefängnisstrafen bis zu 45 Jahren. Die taz sprach in Istanbul mit Besikci.

taz: Sie bezeichnen Kurdistan in einem ihrer Bücher als Kolonie. Wie begründen sie diese Definition?

Ismail Besikci: Ich versuchte darzustellen, daß Kurdistan noch nicht einmal eine Kolonie ist. Klassische Kolonien haben zumindest einen Namen. So war Algerien die Kolonie Frankreichs oder Indien war die Kolonie Englands. Die Kolonie verfügt über einen Namen, die Landesgrenzen sind klar. Innerhalb dieser Landesgrenzen lebt ein Volk. Sowohl die Kolonialisten, als auch die Kolonisierten wissen um die Existenz dieses Volkes. Doch im Fall Kurdistan hat das Land weder einen Namen, noch sind die Landesgrenzen klar. So wird in der Türkei die Identität des kurdischen Volkes abgestritten. Voraussetzung dafür, Kurdistan als Kolonie zu bezeichnen ist, daß ein Land namens Kurdistan mit bestimmten Grenzen anerkannt wird, daß die nationale kurdische Identität anerkannt wird. Kurdistan konnte noch nicht einmal eine Kolonie werden.

Die nationale kurdische Identität muß anerkannt werden

Ich glaube, wir hätten längst ein unabhängiges Kurdistan, wenn sich in den zwanziger Jahren eine britische Kolonie Kurdistan herausgebildet hätte. Doch die Kolonie Kurdistan hat es nie gegeben. Statt dessen wurde das kurdische Land und die kurdische Nation zerstückelt und aufgeteilt. Ein Teil wurde der britschen Kolonie Irak, ein Teil der französischen Kolonie Syrien, ein Teil dem türkischen Staat zugeschlagen. Seit dem 17. Jahrhundert ist Ostkurdistan unter Kontrolle des Iran. Im Laufe der russisch-iranischen Kriege im 19. Jahrhundert wurde auch Ostkurdistan zweigeteilt. Heute leben auch in der Sowjetunion Kurden. Dies alles ist Ergebnis der imperialistischen Zerstückelung und Aufteilung.

Sprecher des Regimes in der Türkei betonen, daß es den Grundsatz der Rechtsgleichheit für jeden Bürger in der Türkei gibt.

Dies ist nicht richtig. Mit der Gründung der türkischen Republik wurde die Existenz der Kurden abgestritten. Sowohl die Identität Kurdistans, als auch die kurdische Identität werden abgestritten. Sie streiten die kurdische Existenz ab, sagen, daß jeder ein Türke ist, daß es keine kurdische Sprache gibt. Auf der anderen Seite versucht man die Kurden zu assimilieren, ihnen eine türkische Identität zu verpassen. Seit den zwanziger Jahren wurden in der Türkei schriftliche Dokumente — etwa aus dem 13. Jahrhundert, dem 17. Jahrhundert —, die vom kulturgeschichtlichen Schaffen der Kurden zeugen, vernichtet.

Ich habe betont, daß das Abstreiten der kurdischen Identität mit der Assimilationspolitik, mit der Türkisierungspolitik einhergeht. Wenn Kurden die türkische Identität akzeptieren, steht ihrem gesellschaftlichem Leben nichts im Wege. Sie können Lehrer, Gouverneur, Minister oder Ministerpräsident werden. Doch wenn sie ihre kurdische Identität verteidigen, können sie noch nicht einmal Hausmeister werden. Es kann von Rechtsgleichheit nicht die Rede sein. Denn in der Realität ist die Voraussetzung der Rechtsgleichheit das Abstreiten der kurdischen Identität.

Die kurdischen Organisationen in dem Länderdreieck Türkei-Irak-Iran waren seit jeher zersplittert. Was ist die Ursache dafür, daß sich in den verschieden Staaten politisch-ideologisch unterschiedlich ausgerichtete kurdische Organisationen herausbildeten?

Zuerst einmal gibt es die „Demokratische Partei Kurdistans“ (KDP). Sie ist eine Tradition in Kurdistan. Sie hat Bauern und Kleinhändler in ihren Reihen. In Nordkurdistan bildeten sich Ende der sechziger Jahre die „revolutionären Kulturstätten“. Gebildete Kurden waren ihre Basis. Die politischen Ziele dieser Organisationen beschränken sich eher auf relative Autonomie. Die „Demokratische Partei Kurdistans“ zum Beispiel will innerhalb der irakischen oder der iranischen Grenzen ein autonomes Kurdistan. Die „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) ist dagegen eine ganz neuartige Organisation. Sie steht nicht in der Tradition der KDP. Die PKK wurde Ende der siebziger Jahre von kleinbürgerlichen Intellektuellen, die sich die marxistisch-leninistische Ideologie aneigneten, gegründet. Heute umfaßt sie nahezu alle Schichten der kurdischen Gesellschaft.

Die KDP organisierte nur bestimmte gesellschaftliche Schichten, bestimmte kurdische Stämme und war nur in einem Teil Kurdistans präsent. Doch die PKK ist überall in Kurdistan präsent und umfaßt alle gesellschaftlichen Klassen — Bauern, Arbeiter, Kleinhändler, Schüler, Studenten. Die Organisation der PKK geht in die Tiefe. Es gibt auch einen zentralen Unterschied in der Ideologie der PKK im Vergleich zu anderen kurdischen Organisationen. Das Ziel der Gründung eines unabhängigen kurdischen Staates wurde erstmalig von der PKK aufgeworfen. 1984 begann die PKK dann ihren bewaffneten Kampf für das unabhängige Kurdistan.

Doch die PKK bildete sich erstmalig in der Türkei heraus. Warum entstand eine Organisation, die am ehesten im modernen Sinne eine Partei und kein Stammesverband ist, in der Türkei?

Nehmen wir die Beispiele in den siebziger Jahren. Die Armee drang in kurdische Dörfer. Mit Bajonetten wurde die ganze Dorfbevölkerung zusammengetrieben. Ältere Männer wurden nackt ausgezogen. Man band ein Seil an das männliche Geschlechtsorgan. Die Frauen des Dorfes mußten die Männer herumführen.

Dies ist eine gewaltige Erniedrigung. Überall in der Welt, wo solche Erniedrigung und Unterdrückung erfahren wird, sollte revoltiert werden. Doch wir sehen, daß die Kurden in den siebziger Jahren nicht revoltieren. Sie sehen es als natürliches Schicksal an. Hier hat die PKK angesetzt. Sie hat gesagt wir akzeptieren dies nicht. Wir werden das verändern und zu diesem Zweck organisieren wir uns. Die PKK hat den erniedrigten Status des kurdischen Volkes richtig analysiert. Der Gedanke der Revolte, des Aufstandes kam mit der PKK in den achtziger Jahren, veränderte das geistige Klima unter dem kurdischen Volk nachhaltig und führte zum Abschütteln des akzeptierten Sklavendaseins.

Heute wirkt die PKK nicht nur in Nordkurdistan. Der Gedanke der Unabhängigkeit hat auch Südkurdistan beeinflußt. Natürlich verfügen die KDP (Irak) und die KDP (Iran) dort über mehr Einfluß. Doch die Gedanken der PKK fassen Fuß unter den Anhängern der KDP.

Saddam Hussein ist verantwortlich für die Massaker an der kurdischen Bevölkerung im Irak. Die Türkei hat während des Krieges eindeutig auf Seiten der USA Partei ergriffen. Wo stehen die Kurden in diesem Krieg?

Es gibt einen großen Unterschied zwischen den Palästinensern und den Kurden. Die Palästinenser haben Israel zum Gegner. Gleichzeitig sind 22 arabische Staaten gegen Israel. Verschiedene palästinensische Organisationen haben sich unter einem Dach zusammengefunden und kämpfen gegen Israel. Für die Kurden trifft das nicht zu. Die Kurden sind immer noch keine solche Einheit, daß man ihre Position in diesem Krieg bestimmen könnte.

Doch der sogenannte Frieden im Nahen Osten war ein Instrument gegen die Kurden. Er beinhaltete, daß 70 Jahre die Kurden versklavt wurden. Der Status quo ist gegen die kurdische Sache. Und die Kurden können nur dann erfolgreich politisch wirken, wenn dieser Status quo zerschlagen wird. In diesem Sinne ist der Krieg eine Chance. Nur wenn die Kurden mit am Konferenztisch sitzen — und Voraussetzung dafür ist, daß sie kämpfen — kann es eine Lösung geben. Das Gespräch führte Ömer Erzeren