Mehr als eine „wunderbare Verfassung“

In Bonn diskutierten Heide Hering, Günter Grass, Wolfgang Ullmann und Heiner Geißler über das Für und Wider einer neuen Verfassung für Deutschland/ Verfassunggebende Versammlung contra Modernisierung des Grundgesetzes  ■ Von Stefan Koldehoff

Der schnauzbärtige Pfeifenraucher aus dem Norden und der asketische Bergsteiger aus dem Süden waren sich unerwartet schnell und weitgehend einig: „Das Grundgesetz ist eine wunderbare Verfassung und die beste, die Deutschland je hatte“, stellten Günter Grass und Heiner Geißler übereinstimmend fest, um anschließend immer wieder vor allem den Grundrechtskatalog in den höchsten Tönen zu loben. Die Einigkeit hielt nicht lang. Als die ebenso notwendige wie unvermeidliche Frage folgte, was denn mit der über den Klee gelobten Verfassung künftig im größer gewordenen Deutschland zu geschehen habe, verzogen sich die beiden passionierten Verfassungsschützer schnell wieder in ihre politischen Ecken. „Erneuern und auf parlamentarischem Wege modernisieren“, forderte der christdemokratische Politiker. „Verfassunggebende Versammlung“, setzte dem der bekennend sozialdemokratische Poet entgegen. An einen Tisch gefunden hatten die beiden Diskutanten durch eine Einladung der schleswig- holsteinischen Ministerin für Bundesangelegenheiten, Eva Rühmkorf. Im Kulturprogramm ihrer Bonner Dependance hatte die Dichtergattin eine Veranstaltungsreihe mit dem ironisch-doppeldeutigen Titel „Deutschland in neuer Verfassung“ ins Leben gerufen. Zu einem ersten Meinungsaustausch waren neben Grass und Geißler auch der Mitinitiator der DDR-Bürgerrechtsbewegung und heutige Bündnis 90-Abgeordnete Wolfgang Ullmann und die Frauenrechtlerin Heide Hering von der Humanistischen Union in die Landesvertretung geladen. Ob das größer gewordene Deutschland eine neue vom Volk bestätigte Verfassung bekommen sollte oder ob auch eine Reform des existierenden Grundgesetzes reiche, wollte die Ministerin von ihren Gästen erfahren.

Der Änderungsbedarf in vielen Punkten war allen unstrittig. Über die Art der notwendigen Änderungen allerdings gingen die Meinungen weit auseinander. „Der Mangel an Ideen schlägt heute auf uns zurück“, stellte Günter Grass in seinen ersten Überlegungen über das Für und Wider einer neuen Verfassung fest. Der Schriftsteller sieht die Ursachen für die wachsenden sozialen Unruhen und Konflikte in den fünf neuen Ländern nicht allein in der überstürzten Einführung der D-Mark und der wirtschaftlichen Not Hunderttausender Menschen: „Es ist auch diese Mißachtung von 16 Millionen Menschen, die aus ihrer Verletzung heraus etwas einbringen wollten.“ Grass erinnerte in diesem Zusammenhang vor allem an den Verfassungsentwurf des Runden Tisches, der noch zur Zeit der Modrow-Regierung in Ost-Berlin entworfen worden war: „Der Entwurf wurde im Bundestag überhaupt nicht diskutiert, in der Volkskammer eine knappe halbe Stunde.“

Der maßgebliche Vordenker für den Verfassungsvorschlag saß Grass gegenüber: Professor Wolfgang Ullmann, Vertreter des Bündnis 90 am Runden Tisch, hatte wesentlich an den Formulierungen des von allen politischen Gruppen der ehemaligen DDR mitgetragenen Entwurfes gearbeitet. „Wir wollten eigentlich nur festhalten, daß es nicht mehr so weiterging“, rekapitulierte er die Motive des Runden Tisches, „und wir wollten auch nicht mehr so weiter. Wir wollten die Einheit, aber die Einheit der Demokratie. Deshalb haben wir einen Weg in diese Einheit beschrieben als einen Weg in eine neue Art von Demokratie, eine Demokratie, die auch die Bürgerinnen und Bürger mit umfaßt, die nach 1945 nach einem Intermezzo von wenigen Jahren nach einer Diktatur abermals eine Diktatur erlebt haben.“

Übriggeblieben von diesen Idealen ist nach knapp eineinhalb Jahren viel Resignation. Daß der Ostberliner Verfassungsentwurf im Bonner Bundestag ebensowenig eine Chance bekommen wird, wie er sie in der Volkskammer hatte, schätzt Ullmann durchaus realistisch ein: „Wir wollen gemeinsam die Sprache der Demokratie sprechen, damit sich das vor allem im Osten zur Zeit sehr angespannte Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft wieder entspannen kann. Ich denke allerdings, daß unsere Vorschläge nicht mehr als eine historische und authentische Urkunde bleiben werden.“ Ökologische Belange und die Frauenfragen, für die sich Heide Hering einsetzte, werden deshalb wohl vorerst ebensowenig Eingang in die deutsche Verfassung finden, wie ein stärkeres plebiszitäres Element, für das sich Wolfgang Ullmann und der Runde Tisch ausgesprochen hatten. „Daß das Volk als Souverän seine Macht nur bei den Wahlen einsetzen kann, ist einfach zu wenig“, begründete der Kirchenhistoriker Ullmann.

„Die Diskussion um die Verfassung ist eine typisch deutsche Diskussion“, wertete der ehemalige CDU-Generalsekretär und innerparteiliche Kohl-Kontrahent Heiner Geißler. Selbst promovierter Verfassungsrechtler, wies er auf die schwerwiegende Bedeutung einer Verfassungsänderung hin und bog sich die Wendeereignisse in der DDR für seine Argumentation zurecht: „Ohne ihnen Unrecht tun zu wollen: Die Menschen in der ehemaligen DDR sind nicht in erster Linie für eine Vereinigung, sondern für ein gerechteres und freieres Leben auf die Straße gegangen. Wir brauchen deshalb keine neue nationalstaatliche Verfassung, sondern können bei einigen Modernisierungen auch mit unserem republikanischen Grundgesetz und dem darin verankerten Universalitätsanspruch der Menschenrechte gut leben.“ Den Anschlußartikel 23 hält Geißler deshalb für einen „Glücksfall“, weil erst durch ihn die Einheit in zügigem Rahmen über die politische Bühne zu bringen gewesen sei. „Artikel 23 war die Falle, in die wir uns selbst hineinbegeben haben“, widersprach Günter Grass und begründete: „Wir können nicht weiter über die Köpfe der Leute hinwegreden, die wir kraft Artikel 23 angeschlossen haben. Die Ergebnisse stehen heute vor der Tür.“ Wie Ullmann und Hering sprach auch er sich für eine umfassendere Verfassungsänderung aus: „Das Grundgesetz ist beispielsweise nicht mehr auf dem aktuellsten Stand, was die Definition des Deutschen anbetrifft.“ Wer dem deutschen Kulturkreis angehört, sollte nach Grass' Meinung auch dann in seinem neuen Heimatland wählen dürfen, wenn er dessen Staatsbürgerschaft nicht angenommen hat. Auch die Frage der Waffenproduktion und des Waffenexportes bedarf für den Schriftsteller gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Situation im Irak einer grundsätzlichen Klärung. Die Formulierung neuer sogenannter Staatsziele reicht für ihn nicht aus: „In der DDR-Verfassung hat auch als Staatsziel gestanden, daß Kinder ein Recht auf Freude und Frohsinn haben.“ Gleichheit und Selbstbestimmung für die Frauen und eine neue Definition des Familienschutzes als eines der höchsten vom Staat zu schützenden Güter forderte noch einmal Heide Hering, die schon 1978 das erste Antidiskriminierungsgesetz mitentworfen hatte. Ein Beispiel dafür, wie an eine neue Verfassung nicht herangegangen werden sollte, gab abschließend Wolfgang Ullmann. Er beschrieb in deutlichen Worten die Gefühle vieler DDR-BürgerInnen, die noch vor der Wende ungefragt in der Präambel des westdeutschen Grundgesetzes lesen konnten: „[Das deutsche Volk...] hat auch für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war.“ Heute hätte die Möglichkeit zur Mitwirkung bestanden, versagt blieb sie trotzdem.