„Zufallsstrafrecht an der Grenze“

■ Hans-Georg Koch, Experte für Abtreibungsrecht am Max-Planck-Institut, zu Ermittlungen gegen abtreibende Frauen INTERVIEW

taz: Aus einer Studie Ihres Instituts geht hervor, daß in Nordrhein-Westfalen jede zweite Ermittlung in Zusammenhang mit einer Abtreibung an der deutsch-niederländischen Grenze geführt wird. Womit müssen Frauen dort also rechnen?

Hans-Georg Koch: Grenzbeamte sehen offenbar aufgrund bestimmter Erscheinungen Anlaß zur Frage, ob die Insassin des Fahrzeuges nicht von einem Schwangerschaftsabbruch kommt. Das sind dann sehr unbestimmte Verdachtsmomente, zum Beispiel, daß die Frau alleine am Steuer sitzt. Auch bei der Suche nach Schmuggelware oder Rauschgift können Indizien auf einen Krankenhausaufenthalt festgestellt werden. Es handelt sich hier um Zufallsfunde, denn man kann den Leuten ja nicht ansehen, wo sie herkommen.

Das Innenminsterium behauptet, die Frauen hätten in allen zehn bekannten Fällen selbst offenbart, daß sie von einem Schwangerschaftsabbruch kommen. Kann das sein?

Die Frage ist, wie solche Auskünfte zustande gekommen sind und welche Fragen die Beamten an der Grenze gestellt haben.

Der jüngste Fall: Am Grenzübergang Gronau fanden die Beamten Handtücher und ein Nachthemd im Gepäck einer Reisenden. Sie überwiesen sie zur Zwangsuntersuchung in ein Krankenhaus. Ist das juristisch in Ordnung?

Es gibt Zwangsbefugnisse der Strafverfolgungsbehörden. Bei dem aktuellen Fall ist jedoch fraglich, ob die Vorraussetzungen nach Paragraph 81 Strafprozessordnung vorgelegen haben. Nur bei Gefahr des Verlustes der Beweismittel darf ohne richterliche Anordung eine solche Untersuchung von der Staatsanwaltschaft oder ihren Hilfsbeamten verordnet werden. Das war hier wohl nicht gegeben. Wichtiger noch ist die Frage, ob bei der Frau überhaupt eine Beschuldigteneigenschaft vorlag. Wenn sie sich hier nach 218b beraten lassen hat, ist sie nicht strafbar. Dann dürfen auch keine Zwangsuntersuchungen gemacht werden.

Wenn sich Frauen vor einem Abbruch in den Niederlanden eine Bestätigung über eine Beratung holen, kann an der Grenze nichts passieren?

Doch. Zum Beispiel der mitfahrende Freund oder Ehemann kann wegen des Verdachts auf Beihilfe festgehalten werden.

Sind diese Vorfälle nicht der beste Beweis dafür, daß der 218 auch juristisch unsinnig ist?

Wir haben es hier mit Zufallsstrafrecht zu tun. Es trägt dem Gerechtigkeitsempfinden der Leute nicht Rechnung. Als Betroffene kann man Glück oder Pech haben, dem einen oder dem anderen Strafverfolger in die Hände zu fallen. Außerdem: In einer anderen Studie hat unser Institut herausgefunden, daß in den Niederlanden sogar weniger abgetrieben wird als bei uns. Ich würde mir auch für uns eine Rechtslage wünschen, die Frauen nicht mehr dazu zwingt, zum Abtreiben ins Ausland zu fahren. Interview: Tina Stadlmayer