Havelchaussee — Durchfahrt für Blinde

■ Nach dem Regierungswechsel fahren immer mehr Autos durch die populäre Chaussee/ Polizei muß selbst Reisebusse stoppen

Zehlendorf. Berlins blödeste Autofahrer treffen sich derzeit auf einem 1,8 Kilometer langen Stück einer bekannten Chaussee. Obwohl dieses Stück seit knapp einem Jahr gesperrt ist, wollen immer mehr motorisierte Ausflügler nicht wissen, daß erstens der kurze Teil der Havelchaussee auch nach dem Regierungswechsel noch nicht geöffnet wurde, und behaupten, daß sie zweitens die Verbotsschilder schlicht nicht gesehen hätten.

Am vergangenen Sonntag sahen so viele Fahrzeugführer an den Schildern auf beiden Seiten der Waldstraße sowie an dem auf den Asphalt gemalten Verbotssymbol vorbei, daß ein Polizist der Grunewalder Reiterstaffel nicht mehr mit dem Aufschreiben der Verkehrssünder hinterherkam. Mit seinem Pferd versperrte er gelassen die Straße und mußte gar ganzen Reisebussen Knöllchen (40 Mark) verteilen. Vor dem spontanen Kontrollpunkt stauten sich nicht nur Kleinstwagen und Cabriolets, auch Fußgänger blieben stehen, gafften oder beschimpften die Autofahrer. Die wiederum verhielten sich treudoof. Vom taz-Reporter gefragt, antworteten sie durchgehend, daß sie die entscheidenen Verkehrsschilder nicht gesehen hätten. Eine aufgebrachte Radfahrerin, die immer wieder versuchte, heranfahrenden Wagen den Weg zu versperren, wurde von einem weißen Opel-Corsa weggehupt. Als dann das darin sitzende Pärchen gegenüber dem Strafzettel schreibenden Polizeireiter auch noch behauptete, die Schilder nicht gesehen zu haben, verlor der Ordnungshüter dann doch seine Fassung und schrie: »Sie müssen blind sein!« Nach Angaben von der Polizeipressestelle soll der Verkehr auf der Havelchaussee nicht zugenommen haben. Sprecher Bert Müller erklärte aber auch, daß die Chaussee nicht Schwerpunkt polizeilicher Arbeit sei. Wie viele Autos das Teilstück trotz Verbots befahren, wird von den Freunden und Helfern gar nicht festgehalten.

Wann nun die umstrittene Sperrung der 1,8 Kilometer wieder rückgängig gemacht wird, wie die SPD/ CDU-Koalition das vereinbart hat, ist bisher unklar. Der Zehlendorfer CDU-Baustadtrat Klaus Eichstädt will sich beim Verkehrssenator für eine »schnelle und endgültige Klärung« einsetzen. Doch der Asphalt- Fan ist auch an den Beschluß seines Bezirksparlamentes gebunden. Die BVV will, daß das Stück Chaussee nicht nur nicht geöffnet, sondern »entwidmet« wird — das Chausseestück wäre keine Straße mehr. Die Senatsverkehrsverwaltung rechnet dennoch damit, daß ab Sommer die Autos dort wieder fahren dürfen. Derzeit wird eine kostengünstigere Lösung für den Trinkwasserschutz gesucht. Bisher würde der Schutz nach einer Öffnung der Chaussee etwa 10 Millionen Mark kosten. Dirk Wildt