Beamte sagen: »Vierteljuden sind keine Juden«

■ Die Ukrainerin Irina K. begann aus Protest gegen die Aufnahmepraxis der »Beratungsstelle« für sowjetische Juden einen Hungerstreik in Marienfelde/ Bürokraten streiten um den richtigen Weg, die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk festzulegen

Marienfelde. Irina K. ist in die Mühlen der Bürokratie geraten. Es sieht schlecht für sie aus. Die Mitarbeiter der seit Mitte Januar dem Landessozialamt unterstellten »Beratungsstelle für jüdische Zuwanderer« in Marienfelde glauben der dreiundzwanzigjährigen Ukrainerin nicht, daß sie ethnische Jüdin ist, verweigern ihr daher die Aufnahme im Rahmen der »Kontingentsflüchtlingsweisung« vom 4. Januar 1991. Jüdische Zuwanderer, so steht es in der Weisung des Bundesinnenministeriums, die vor dem 15. Februar unmittelbar aus der Sowjetunion ausgereist sind, erhalten in Deutschland das Recht auf eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis sowie auf Sozialhilfe und Unterkunft. Aber eben nicht alle. Gestern begann Irina K. aus Protest gegen ihre Behandlung durch das Landessozialamt einen Hungerstreik in Marienfelde.

Irina K. ist vor diesem Stichtag Mitte Februar mit einem Touristenvisum ausgereist, nachweisbar und von den Mitarbeitern in Marienfelde nicht bestritten. Sie kam, wie viele, kurz vor Torschluß, am 13. Februar, in Berlin an und meldete sich am nächsten Tag bei der für die Paßkontrolle zuständigen Abteilung VIa. So weit, so gut. Nicht in Ordnung aber, erfuhr sie von den Beamten, seien ihre Papiere. Das Landessozialamt akzeptiere nur Orginaldokumente, hieß es, nicht aber Kopien, die gefälscht sein könnten. Wenige Tage später erschien Irina K. erneut in der »Beratungsstelle«. Sie legte die geforderten Orginaldokumente, die Geburtsurkunde des Großvaters und der Mutter sowie eine vom Kiewer Standesamt abgeschriebene und beglaubigte Eheschließungsurkunde ihrer Eltern vor. Zweifelsfrei, der Großvater war Jude, seine Tochter tatsächlich die Mutter von Irina und Irina K. nach den Kriterien der nationalsozialistischen Rassengesetze »Vierteljüdin«. Aber nicht Jüdin genug. Unter den Nationalsozialisten hätte diese Abstammungslinie gereicht, um diskriminiert zu werden, für das Landessozialamt reicht sie nicht aus, um im Rahmen der »Kontingentsflüchtlingsregelung« berücksichtigt oder zumindestens geduldet zu werden. Sie ist auch zuwenig Jüdin, um einen Wohnheimplatz vermittelt zu bekommen. Irina K. hat zuviel arisches Blut in ihren Adern.

Dieser Konflikt ist symptomatisch für die Situation von Dutzenden von sowjetischen Emigranten in Berlin. Es ist ein offenes Geheimnis, daß von den in den letzten Monaten mit einem Touristenvisum nach Berlin gereisten rund 4.000 Neuzuwanderern nur etwa die Hälfe Juden nach den religiösen Gesetzen der Halacha sind. Nur, wenn die Mutter Jüdin ist, so schreibt es das Religionsgesetz vor, sind die Abkömmlinge auch Juden. In der alten Beratungsstelle in der Otto-Grothewohl-Straße und unter der Betreuung der Mitarbeiter des ehemaligen Büros für Ausländerangelegenheiten beim Ministerrat der DDR, Lutz Basse und Mathias Jahr, spielte die Halacha keine Rolle. Die Aufnahme der Emigranten, so ihr Credo, sei eine staatliche Angelegenheit, Großzügigkeit politisches Gebot. Die Frage, ob ein Neuzuwanderer auch wirklich Mitglied der jüdischen Gemeinde werden könne, stände auf einem ganz anderen Blatt Papier.

Für Basse und Jahr war das einzige Aufnahmekriterium lediglich der Nachweis einer wie auch immer gearteten ethnischen Zugehörigkeit zum jüdischen Volk. Die Beratungsstelle sei keine Nachfolgeorganisation des »Reichssippenamtes«, hatte Basse einmal die Aufnahmepraxis in der Otto-Grothewohl-Straße erklärt. Er weigere sich, einen Unterschied zwischen »Voll-, Halb- oder Vierteljuden« zu machen.

Aber Ende Januar haben Basse und Jahr ihre Arbeit bei der gewesteten Beratungsstelle eingestellt, im Prinzip aus genau den Gründen, die Irina K. jetzt zur Verzweiflung treiben. Jetzt haben weder Irina K. noch andere Emigranten in ähnlicher Lage einen Fürsprecher. Die Chance auf Bett und Sozialhilfe haben in Deutschland nur noch »reinrassige« Juden. Die Furcht vor Millionen von sowjetischen Armutsflüchtlingen bei einer liberalen Aufnahmepraxis läßt deutsche Beamte tief in die Reservatenkammer der Nazis greifen. Am vergangenen Freitag protestierte Irina K. gegen ihre Diskriminierung mit einem Sitzstreik in Marienfelde. Das Versprechen, ihren »Fall« am Montag erneut zu überprüfen, ließ sie den Streik abbrechen. Aber auch das gestrige Gespräch verlief ergebnislos. Jetzt hat sie einen unbefristeten Hungerstreik begonnen. In Marienfelde, draußen vor der Tür der Aufnahmestelle.

Anita Kugler