Merlene im Schwabenland

■ Märchenhafter 200-m-Weltrekord von Merlene Ottey

Von Dopingfrust kein Spur. Im Gegenteil: die Leichtathletikfans im proppenvollen Sindelfinger Glaspalast hatten Lust auf den ungetrübten Genuß. Genug der miesmachenden Diskussion um manipulierte Leistungen. Irgendwie spürten sie, daß ihnen Jungfräuliches geboten wurde. Ben Johnson war für 30.000 D-Mark Startgeld der Garant dafür, daß dieser Sport nun sauber ist.

Oder ist Ben Johnson momentan der einzige Athlet, von dem das Publikum mit Sicherheit glaubt, daß er nicht gedopt ist? Einmal und nie wieder? Das Absurde kennt viele Spielarten. Trotzdem wurde Ben Johnson auch mit der unvermeidlichen Frage eines kanadischen Journalisten zur aktuellen Dopingdiskussion traktiert. Seine sonst so entspannte Miene verfinsterte sich plötzlich, und er machte eine eindeutige Handbewegung. „Kein Kommentar“, fügte er unnötig schroff hinzu. Sein Manager Azan Kemeel sprang ihm sofort bei und warb um Verständnis dafür, daß die „Dopingsache ihn genug belastet habe und für ihn abgeschlossen ist“. Man möchte jetzt „in Ruhe nach vorne schauen“.

Ben Johnson übte sich auch bei seinem achten Auftritt nach der Dopingsperre in Bescheidenheit, die ihn sympathisch macht. Übertriebene Gesten sind von ihm nicht zu sehen. Gut gelaunt zeigte er sich zwei Stunden lang in der Halle. Die Zuschauer verfolgten gespannt sein Aufwärmprogramm. Als sich sein bulliger Masseur bei extremen Dehnübungen mit seinem nicht gerade geringen Gewicht auf ihn legte — dazu sechs Fotografen in professioneller Bauchlage — ging so etwas wie ein mitleidiges Raunen durch die Halle.

Das Rennen gewann er schließlich hauchdünn. 6,58 Sekunden über 60 Meter sind noch einen großen Schritt entfernt vom Weltrekord (6,48). Nicht viel könnte man meinen, doch auf diesem Niveau eine kleine Ewigkeit. „Ich fühle mich in sehr guter Form. In Sevilla bei der WM ist alles offen“, machte sich Ben Johnson nach dem Lauf Mut. Doch in Sevilla wird es kein eigens für den 29jährigen ausgesuchtes Starterfeld geben. Die Konkurrenten werden scharenweise hochkarätig sein. Keine Sensation also, sollte Ben Johnson nicht ins Finale kommen.

Eine Niederlage in Spanien wäre auch für ihn selbst kein Beinbruch. „Die 60-m-Starts in der Halle sind für mich hauptsächlich Training für die 100 Meter draußen“, beschreibt er den Stellenwert der Wintersaison. Mit „Training“ meint der Weltrekordler nicht nur die körperliche Fitneß, sondern vor allem die mentale. „Ich will mich wieder voll auf meinen Lauf konzentrieren können. Mein Kopf muß wieder klar sein.“

Doch eine 30jährige Athletin stahl Ben Johnson in Sindelfingen die Schau. Die Jamaikanerin Merlene Ottey, die weltbeste Sprinterin der vergangenen zwei Jahre, lief nach einer Galavorstellung über 60 Meter 7,04 und Weltrekord (22,24) über 200 Meter. Sie entthronte Heike Drechsler, die die Rekordverbesserung während ihres Weitsprungwettbewerbes miterlebte, aber regungslos schien.

Die Freude war groß bei Merlene Ottey. Der Ausflug ins Schwäbische hatte sich insbesondere finanziell gelohnt. Zum Startgeld von zirka 20.000 D-Mark kam nun noch die Weltrekordprämie. „10.000 Dollar sind da üblich in der Branche“, meinte Veranstalter Herbert Bohr. Der sparsame Schwabe lachte trotzdem, denn die volle Halle (Bohr: „Die hat allein Ben Johnson gefüllt“), Fernsehen und Sponsoren brachten genug Geld in die Kasse, um den 400.000- D-Mark-Etat mehr als auszugleichen.

Merlene Ottey sieht man buchstäblich an, daß sie sich in der Form ihres Lebens fühlt. Mal konzentriert ernst, mal witzig gibt sie passende Antworten auf alle Fragen. In Sevilla wird die seit 1989 in Italien lebende Sprinterin nicht nur über 60, sondern auch über 200 Meter starten. Und Katrin Krabbe? „Ich werde so schnell laufen, wie es nötig ist, wenn es sein muß auch unter sieben Sekunden“, kündigt Frau Ottey an. Wir sind gespannt. Karl-Wilhelm Götte