Votum für Demokratie

■ In Lettland und Estland stimmten auch die Minderheiten für die Unabhängigkeit KOMMENTARE

Über alle Erwartungen hinaus eindeutig ist das Ergebnis der Volksabstimmungen zur Unabhängigkeit in Lettland und Estland ausgefallen. Nur in Teilen des nordöstlichen estnischen Industriereviers mit seiner fast vollständig „russischstämmigen“ Bevölkerung konnten die prosowjetischen Kräfte reüssieren. Im ganzen gesehen hat in beiden Republiken die Mehrheit der slawischen Einwohner für die Unabhängigkeit gestimmt. Im Gegensatz zur Abstimmung in Litauen hatten die sowjettreuen Gruppierungen zur Beteiligung aufgerufen, dies in der Hoffnung, wenigstens in einigen Landesteilen und Städten eine Mehrheit für das „Nein“ zu mobilisieren und damit ein Faustpfand gegen die Unabhängigkeitsbewegungen in die Hand zu bekommen. Entscheidend für das Abstimmungsverhalten der Minderheiten waren die Bluttaten der sowjetischen Truppen in Riga und Vilnius zu Beginn des Jahres. Für viele Russen in den baltischen Staaten stellt sich heute die Sowjetmacht nicht mehr als „Vaterland“ dar, sondern als niedergehendes, nach wie vor diktatorisches, notorisch zu Gewaltausbrüchen neigendes Regime. Sie haben — ganz im Sinne der Volksfronten — das Votum für die Unabhängigkeit als Votum für die Demokratie begriffen. Es gibt Gründe für diesen Vertrauensvorschuß. In allen baltischen Republiken ist gegenwärtig eine politische Linie tonangebend, die den engen, ethnisch begründeten Nationalismus zurückweist, die Minderheiten einlädt, sich am Kampf für die Unabhängigkeit zu beteiligen, und ihnen kulturelle und politische Rechte zugesteht, die einem fortgeschrittenen europäischen Standard entsprechen. Organisationen wie die radikal-nationalistischen „Bürgerkomitees“ in Lettland oder der estnische Kongreß mit ihren Vorstellungen exklusiver Machtausübung durch die „reinen“ Letten bzw. Esten sind aus der Kampagne geschwächt hervorgegangen. Dies ist um so bemerkenswerter, als die von der ethnischen Homogenität des „Volkskörpers“ ausgehenden Ideen bei den Völkern auch des europäischen Teils der Sowjetunion grassieren.

Für das Schicksal der Unabhängigkeitsbewegungen im Baltikum und anderswo bleibt das Verhältnis von Demokratisierung und Nationalstaatsbildung entscheidend. Die massive Stimmabgabe der Russen und anderen Slawen für die Unabhängigkeit eröffnet Chancen für die Demokratisierung der Sowjetunion und — paradoxerweise — für deren künftiges Verhältnis zu den baltischen Staaten. Denn eine wie immer geartete institutionalisierte Zusammenarbeit des Baltikums mit der erneuerten Sowjetunion wird vom demokratischen Charakter der Republiken abhängen, die sie bilden werden. Christian Semler