Der Westen muß sich entscheiden

■ Allmählich beginnen die Bonner Parteien, sich von der ausschließlichen Unterstützung Gorbatschows in der „Baltischen Frage“ zu lösen/ Andrejs Urdzel, Bevollmächtigter Lettlands in der BRD, geht das zu langsam INTERVIEW

taz: Wie erklären Sie den hohen Prozentsatz, mit dem die russischsprachigen und anderen slawischen Bevölkerungsteile für die Unabhängigkeit gestimmt haben.

Andrejs Urdzel: Ich halte das für ein Resultat einer langfristigen Politik, die von den Volksfronten Lettlands und Estlands praktiziert wird. Es geht darum, die nationalen Minderheiten einzubeziehen in den Unabhängigkeitsprozeß. Sie daran teilhaben zu lassen, ihnen nicht nur das Gefühl, sondern die Sicherheit zu geben, in einem zukünftigen Lettland als gleichberechtigte Bürger leben zu können.

Warum haben ihrer Meinung nach die prosowjetischen Gruppen dazu aufgerufen, sich am Referendum zu beteiligen.

Ja, man meinte zumindest die Chance zu haben, durch einen breiten Erfolg eines Neins den Unabhängigkeitsbestrebungen entgegenwirken zu können. Um so höher ist aber gerade das Ergebnis zu bewerten. In Litauen hatte die Interfront noch zum Boykott aufgerufen, in Lettland und Estland war es genau umgekehrt. Die Letten und Esten haben mit Ja gestimmt, trotz einer riesigen „machtvollen“ Kampagne der prosowjetischen Kräfte, trotz des Versuchs, Ängste zu wecken. Sie waren letztlich der Meinung, daß ihre Lebenschancen in den unabhängigen baltischen Staaten größer sind als in der Sowjetunion.

Die nationalistischen estnischen Bürgerkomitees hatten zum Boykott aufgerufen. Wie beurteilen Sie das?

Ich kann das nur aus meiner persönlichen Sicht sagen, ich habe diesen Aufruf von Anfang an als politisch höchst unklug empfunden — wie so manches andere, was von dieser Organisation ausgegangen ist. Es kann gar keinen anderen Weg geben hin zur Demokrtatie als die maximale Einbeziehung aller Bevölkerungskreise unabhängig von ihrer Nationalität und ihrer politischen Orientierung. Es muß zum Beispiel gewährleistet sein, daß alle Bürger, die die Staatsangehörigkeit erlangen wollen, sie auch bekommen können. Jeder muß in Zukunft über die gleichen Rechte verfügen.

Glauben Sie, daß jetzt die Chance besteht, die russischen Bewohner Lettlands und Estlands für ein größeres Engagement zu gewinnen?

Ich hoffe, daß die prosowjetischen Gruppierungen und „Fronten“ zunehmend abbröckeln. Daß immer mehr Russen auch mit in die Parlamentarische Arbeit einbezogen werden. Wir haben in Lettland von Anfang an die Unterstützung sehr prominenter Russen gehabt und auch Angehörige der russischen Minderheit in hohe Staatsämter berufen. Diese Menschen sind in Lettland aufgewachsen, verstehen sich ethnisch nicht als Letten, streben aber danach, die Unabhängigkeit Lettlands wiederherzustellen.

Was ist die Haltung der lettischen Regierung zu der Abstimmung über den Unionsvertrag am 17. März?

Wir sehen diese Abstimmung als einen Hoheitsakt eines fremden Staates an. Wir werden diese Abstimmung nicht fördern, wir werden sie aber auch nicht behindern. Wenn irgend welche Leute, und daß werden wahrscheinlich die Mitglieder der KP sein, die Wahllokale errichten und Bürger, die für die UdSSR optieren, an diesem Referendum teilnehmen, werden wir ihnen diese Möglichkeit lassen. Aber man darf eigentlich davon ausgehen, daß die Wahlbeteiligung an diesem Referendum am 17. 3. nicht hoch sein wird. Wenn sie ein Drittel beträgt, ist das schon hochgegriffen.

Wie sollte der Westen auf die Referenden reagieren?

Ich glaube, nach diesen Abstimmungen ist es hohe Zeit, daß der Westen und speziell die Bundesrepublik, die Mitverantwortung für das Schicksal der baltischen Völker trägt, ihre Politik neu bestimmen. Sie müssen sich darüber klarwerden, was sie eigentlich wollen. Wollen sie weiter ein totalitäres Regime stützen, das notfalls die demokratischen Bewegungen wieder zunichte machen wird — in den baltischen Staaten ebenso wie in der Sowjetunion? Oder will man überall die sich bildenden staatlichen Strukturen stützen, die demokratisch legitimiert sind. Was jetzt im Baltikum passiert, ist die permanente Einmischung einer fremden Macht in die inneren Angelegenheiten demokratischer Länder. Wielange will der Westen dem noch tatenlos zusehen? Interview: Christian Semler